Die Sündenheilerin (German Edition)
immer, sie ist ein unerfahrenes Küken. Versteckt sich hinter Gebeten, glaubt, sie sei fromm, dabei läuft sie nur vor den Männern davon, weil sie nicht weiß, wie sie die anzupacken hat.«
Lena verkniff sich ein Schmunzeln. Sie kannte die alten Geschichten über ihre Großtante, die sämtliche Bewerber um ihre Hand durch ihr allzu bestimmendes Wesen in die Flucht geschlagen hatte, bevor sie Nonne geworden war.
Der Morgen war kühl und frisch, doch die ersten Strahlen der Sonne, die den Hochnebel durchbrachen, versprachen einen warmen Frühlingstag.
»Wir müssen nur der Straße nach Quedlinburg folgen, dann reiten wir geradewegs auf Gut Eversbrück zu«, sagte Lena zu Philip, als sie die Pferde aus dem Burghof führten. Er nickte und half ihr in den Sattel. Schwester Margarita warf Said auffordernde Blicke zu. Sie erwartete die gleiche Aufmerksamkeit. Said fügte sich mit unbewegter Miene, und Lena fragte sich, was er wohl dachte.
»Gut Eversbrück liegt also zwischen Halberstadt und Quedlinburg?«, fragte Philip, als sie die Burg schon eine ganze Weile hinter sich gelassen hatten.
»Ja, beinahe auf halbem Wege, aber etwas näher bei Quedlinburg«, bestätigte Lena. Die ersten Vögel stimmten ihr Morgenlied an, und mit ihrem Gesang kehrten die Erinnerungen zurück. Erinnerungen an Spielleute und Glockenläuten. Die Hochzeit in Quedlinburg, wo Martins Haus stand. Hätten ihre Eltern nicht darauf gepocht, die Hochzeitsfeier auf Gut Eversbrück auszurichten, hätten sie noch leben können. Auch wenn das Todesurteil über Martin längst gesprochen war …
Um die Mittagsstunde erreichten sie ihr Ziel. Der hohe Erdwall mit den Palisaden aus dunkler Eiche war schon von Weitem zu erkennen. Eversbrück war eine kleine Niederburg, doch hätten die Palisaden keinem ernsthaften Angriff getrotzt, sondern hielten nur herumlungerndes Raubgesindel und wilde Tiere fern.
Das Tor war weit geöffnet, ganz so, wie Lena es in Erinnerung hatte. Gut Eversbrück hatte Reisenden immer offen gestanden, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und auch des Nachts war müden Wanderern Einlass gewährt worden. Ihr Vater hatte das Gastrecht hochgehalten, und sie war sich sicher, dass Lothar, einst sein erster Waffenknecht und nach seinem Tod der Pächter, es ebenso hielt.
Schwester Margarita trieb ihr Pferd an und gesellte sich zu Lena.
»Hier hat sich nichts verändert. Sieh nur, sogar die Wäsche wird noch an gleicher Stelle auf der Wiese gebleicht.« Die Nonne zeigte auf eine Reihe leinerner Bettlaken, die in der Nähe des kleinen Baches ausgebreitet lagen. Lena nickte. Nicht nur der Waschplatz war derselbe geblieben. Auch die Lieder der Wäscherinnen, die sich mit dem Gesang der Vögel mischten, gaben ihr das Gefühl, niemals fort gewesen zu sein. Und doch war alles anders. Niemals wieder würde ihr Vater mit ihr über die abgeernteten Felder galoppieren, niemals wieder würde ihre Mutter sie nach dem wilden Ritt mit Kuchen und Milch erwarten …
Sie spürte das Brennen aufsteigender Tränen. Hastig schluckte sie sie hinunter. Nur keine Schwäche zeigen.
Als sie das Tor passierten, blickten ihnen die Tagelöhner und Mägde nach, vor allem Said wurde begafft, doch dann erkannten einige Mägde Lena, und ehe sie sich versah, hatte sich eine dichte Menschentraube um sie gebildet.
»Frau Helena ist zurück!«, rief ein junges Mädchen mit hellblonden Zöpfen und rannte barfüßig über den Sandweg zum Gutshaus hinüber. War das etwa die kleine Marie, Lothars Tochter? Konnte sie in dem einen Jahr wirklich so gewachsen sein?
Lena glitt aus dem Sattel, noch ehe Philip ihr zu Hilfe kommen konnte. Für die meisten Menschen in Quedlinburg und Halberstadt war sie tot, nur ein weiteres Opfer des Schlächters Barbarossa. Mutter Clara hatte nichts unternommen, die Gerüchte über ihren Tod zu zerstreuen. Die Äbtissin wollte, dass Lena sich fernab vom Mitleid der Menschen erholte, das sich oft genug nur aus der Freude am Grusel speiste. Lena hatte es selbst unter den Nonnen erlebt. Mehr als eine Schwester hatte ihre Nähe gesucht, um ihr Einzelheiten über die grausige Bluttat zu entlocken.
Hier auf Eversbrück war es anders. Natürlich wussten alle, dass sie noch am Leben war. Lothar hatte sie sogar im Kloster besucht, als er den Pachtvertrag abgeschlossen hatte. Sie kannte Lothar, so lange sie zurückdenken konnte. Er hatte ihr das Reiten beigebracht, er war für sie fast wie ein großer Bruder. Doch als sie ihn im Kloster wiedergesehen
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