Die Sündenheilerin (German Edition)
loszulassen.
»Ihr wisst, dass mein Vater ein gefürchteter Gegner in jedem Turnier war, ehe er seine Heimat verließ. Er liebte den ritterlichen Zweikampf und das Spiel mit der Lanze. Er lehrte mich schon als kleinen Knaben, wie man eine Lanze hält, auch wenn es anfangs nur ein Besenstiel war und mein Schlachtross ein britannisches Pony.« Ein wehmütiges Lächeln huschte über Philips Züge. »In Alexandria nehmen wir vieles nicht so wichtig wie in diesem Land. Während die Jungen hier schon mit sieben Jahren als Pagen auf fremde Burgen geschickt werden, blieben wir Söhne aus den christlichen ritterlichen Familien Alexandrias im Hause unserer Väter. Mein Vater legte Wert darauf, dass ich die Zeit besser nutzte als er seine Jugendjahre, denn er hatte nie Lesen und Schreiben gelernt. Also holte er einen Mönch ins Haus, der mich in Latein unterrichtete, und später auch einen Juden, bei dem ich die arabische Schrift erlernte. Said nahm ebenfalls am Unterricht teil, er hielt mich auch davon ab, die Stunden zu versäumen, hätte ich mich doch viel lieber bei den Pferden oder in der Waffenkammer herumgetrieben. Damals glaubte ich noch, es komme einzig auf die Kampfstärke eines Mannes an. Den Wert der Wissenschaften lernte ich erst viel später zu schätzen.« Er atmete tief durch, bevor er weitersprach.
»Mein Vater hatte einen guten Freund, Ritter Heinrich, dessen Sohn so alt war wie ich. Als wir vierzehn waren, einigten sich unsere Väter darauf, dass Heinrichs Sohn Guntram der Knappe meines Vaters wurde und ich in Heinrichs Dienste trat, damit wir alle Bedingungen für die spätere Schwertleite erfüllten und sieben Jahre später in den Ritterstand aufgenommen werden konnten. Dennoch lernte ich das meiste von meinem Vater. Ich war ein geschickter Schüler, aber niemals gelang es mir, ihn zu besiegen. Er war eine Legende, keiner kam ihm gleich.«
Philips Seelenflamme leuchtete wieder etwas heller.
»Es war vor ungefähr einem Jahr. Heinrich, sein Sohn Guntram und etliche andere Männer waren zu Gast in unserem Haus. Einer schlug vor, einen kleinen Waffengang zu wagen. Wir waren alle begeistert von dem Gedanken. Damals gab es für mich kein größeres Vergnügen.«
Seine Rechte verkrampfte sich in Lenas Hand, doch sie ließ ihn nicht los.
»Mein Vater und ich haben alle aus dem Sattel gestoßen. Niemandem ist etwas passiert, abgesehen von Guntrams verstauchter Hand. Wir haben immer darauf geachtet, mit stumpfen Lanzen und voller Panzerung gegeneinander zu reiten. Am Schluss waren nur mein Vater und ich unbesiegt. Da rief Heinrich: ›Lasst uns sehen, ob der alte Wolf endlich einen würdigen Nachfolger gefunden hat!‹
Mein Vater lachte und meinte, wenn es einen Nachfolger gebe, dann sei ich es wohl, der beste Schüler, den er jemals hatte. Dann sind wir gegeneinander geritten.«
Lena sah das Glitzern in Philips Augen, die gleiche hastige Bewegung, mit der sie selbst vorhin ihre Tränen fortgeblinzelt hatte.
»Es hätte nicht geschehen dürfen. Ich hätte nicht gegen meinen Vater reiten dürfen. Aber ich wollte siegen. Ich wusste, dass ich schon seit einiger Zeit besser war. Er war beinahe fünfzig, ich vierundzwanzig. Er hatte zwar mehr Erfahrung, aber ich mehr Kraft und die Beweglichkeit der Jugend, die er allmählich verlor.«
»Was ist dann geschehen?«
»Wir ritten gegeneinander. Ich traf ihn sehr gut. Meine Lanze splitterte an seinem Schild. Er machte eine Abwehrbewegung, dabei glitt die Lanze ab, und die gesplitterte Spitze drang durch die Sehschlitze seines Visiers. Ich spürte, dass er gestürzt war, aber erst als ich mein Pferd herumriss, erkannte ich das Unheil. Er lag am Boden, stöhnte, versuchte, den Helm abzunehmen. Ich rannte zu ihm, zog ihm vorsichtig den Helm vom Kopf. Alles war voller Blut. Der Lanzensplitter hatte sein rechtes Auge durchbohrt. Ich habe geschrien, wollte die Blutung aufhalten, doch ich wusste nicht wie. Sah den schmerzvollen Blick in seinem gesunden Auge. Die anderen rannten auf uns zu, wollten Vater helfen. Irgendwer rief nach einem Arzt. Und in all der Verzweiflung spürte ich plötzlich ein sanftes Streicheln auf meiner Wange. Als wären seine Schmerzen nichts, strich mein Vater mir übers Gesicht und flüsterte: ›Du warst der Bessere. Ich liebe dich, mein Sohn.‹«
Philip riss sich von Lenas Hand los, wandte ihr den Rücken zu und verbarg das Gesicht am Stamm des Baumes. Sie sah, dass er am ganzen Leib bebte und sich mit einer verdächtigen Handbewegung über
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