Die Sündenheilerin (German Edition)
gar nichts wollen, sondern sich nur dem Willen anderer unterordnen.«
»Dann sag es ihr.« Ein Lächeln umspielte Ludovikas Züge. »Aber nicht heute und nicht morgen. Du bist erschöpft, gönn dir Ruhe. Ich werde unterdessen versuchen, mir einen Eindruck von der Gräfin zu verschaffen.«
Der beißende Kopfschmerz war erst am frühen Nachmittag erträglich geworden. Lena hatte sich hingelegt und versucht, etwas zu schlafen, doch die ersehnte Ruhe blieb aus. Elises unbedachte Worte hatten die alte Wunde in Lenas Herzen aufgerissen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie den rotbärtigen Teufel vor sich, spürte das Blut ihres Gatten auf der Haut.
Schmerzensreiche Jungfrau voller Gnaden , lass die Bilder nicht zurückkehren. Nimm mir nicht den Frieden meiner Seele. Wie soll ich der Gräfin Hilfe bringen, wenn meine Seele voller Schmerz und Zorn ist?
Sie stand auf und trat ans Fenster. Der Regen hatte aufgehört, und das Himmelsgrau riss nach und nach auf. Dünne Sonnenstrahlen fielen in den Burghof und spiegelten sich in den Pfützen.
Scharfe, fremdartige Worte ließen sie zusammenzucken. Sie drangen aus dem Fenster unter ihrer Kammer zu ihr herauf. Lena beugte sich hinaus und versuchte etwas zu erkennen. Vergeblich. Die Stimme gehörte Said, aber bislang hatte sie ihn noch nie in seiner Muttersprache reden hören. Er schien verärgert. Dann entgegnete Philip etwas. Leiser, ruhiger. Vermutlich sollten seine Worte der Beschwichtigung dienen, doch er wurde sofort von Said unterbrochen. Stritten sie sich? Der Klang der unbekannten Sprache war härter und kehliger, als sie es gewohnt war. Zu gern hätte sie verstanden, was den Araber so aus der Fassung brachte. Zugleich war es faszinierend, den beiden zu lauschen, obwohl sie nichts verstand. Die fremde Sprache veränderte die vertrauten Stimmen auf seltsame Weise. Da erst wurde ihr bewusst, dass beide bislang ohne jeden Akzent Deutsch gesprochen hatten. Wie konnte das sein? Gewiss, wer viel auf Reisen war, beherrschte die eine oder andere Sprache, aber immer blieb etwas vom Klang der ursprünglichen Muttersprache. Ein untrügliches Zeichen der Herkunft, hatte ihr Vater sie einst gelehrt. Was hatte Philip doch gleich über seine Abstammung gesagt? Er sei der Sohn eines deutschen Ritters. Das mochte erklären, warum er die Sprache fehlerlos beherrschte, doch nicht, warum auch Said es tat. Daraus ließ sich nur eines folgern: Sie mussten sich seit ihrer frühesten Kindheit kennen, waren vermutlich zusammen aufgewachsen. Und es besagte noch etwas. Philips Vater stammte aus dieser Gegend, denn sein Sohn sprach die hiesige Mundart. Schon ein paar Tagesreisen weiter entfernt redeten die Leute anders, Lena wusste es genau, ihr Vater hatte früher oft Gäste und Handelsreisende bewirtet, und manche von ihnen hatte sie nur mit Mühe verstanden.
Ein anderer Gedanke kam ihr. Wenn beide gemeinsam aufgewachsen waren, weshalb war Said dann nicht längst Christ? Stammte Philip tatsächlich aus einem gottesfürchtigen Haus, wenn man einem heidnischen Kind erlaubte, in seinem Irrglauben zu verharren? Was trieb die beiden wirklich hierher? Philip wusste seine Worte wohl zu setzen, war ein begnadeter Erzähler. Bedeutete das nicht auch, dass er ebenso gut zu lügen vermochte? Von Anfang an hatte sie das Gefühl gehabt, er trage eine Maske. Warum versteckte er sich? Und wovor?
Die Stimmen waren leiser geworden, anscheinend hatten die beiden ihren Zwist beigelegt, doch das Misstrauen hatte seinen Stachel längst in Lenas Herz gesenkt.
An diesem Abend blieb Lena der Tafel fern. Eine Magd brachte ihr etwas von den Speisen in die Kammer und erkundigte sich schüchtern nach ihrem Befinden. Lena antwortete ausweichend und nahm den Korb an der Tür entgegen. Auf einer dicken Brotscheibe lag ein saftiges Bratenstück vom Rehbock, den der Graf am Tag zuvor erlegt hatte. Beim Gedanken an ihren Gastgeber überfiel sie ein schlechtes Gewissen. Er erhoffte sich so viel von ihr, doch sie konnte seiner Frau nicht die vorbehaltlose Zuwendung schenken, die eine Kranke erwarten durfte. War Elise schon immer so schwierig gewesen, oder hatte sie erst das Leid so geformt?
Trotz des verführerischen Bratenduftes fehlte Lena der Appetit. Mühsam zwang sie sich zum Kauen und Schlucken, einzig um den Bedürfnissen des Körpers zu genügen. Es war die richtige Entscheidung, der Tafel an diesem Abend fernzubleiben.
Die folgende Nacht war grauenvoll. Lena hatte keine Gewalt mehr über die Erinnerungen,
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