Die Sündenheilerin (German Edition)
denen sie sich nie mehr hatte ausliefern wollen. Immer wieder hörte sie in ihren Träumen die Schreie der Sterbenden, das grässlich schmatzende Geräusch, als die Klinge des roten Teufels ihres Vaters Leib durchbohrte. Sah Martins Kopf mit leeren Augen vor sich im Staub liegen, Blut sickerte aus dem Halsstumpf. Spürte den Schmerz des Schwertes in der eignen Brust, das Brechen der Rippen. Wachte auf, bedeckt von Martins Blut. Nein, es war bloß ihr eigener Schweiß.
Sie betete zur Heiligen Jungfrau, versuchte vergeblich Ruhe zu finden. Als sie das zweite Mal aus entsetzlichen Albträumen aufgeschreckt war, fürchtete sie den Schlaf. Draußen herrschte noch Finsternis, hinter den Wolken war silbriges Mondlicht zu erahnen. Dennoch wusste sie, dass die Nacht für sie vorüber war. So stand sie auf, wusch sich den Schweiß vom Leib und kleidete sich an. Dann verließ sie ihre Kammer.
Auf der Stiege war es finster, mit dem kleinen Handlicht erkannte sie mit Mühe die Stufen. Es gab nur einen Zufluchtsort, an dem sie sich um diese Stunde sicher fühlte. Die kleine Kapelle, in der sie schon am Morgen zuvor mit Ludovika gebetet hatte. Ein unscheinbares kleines Heiligtum gleich hinter dem Brunnenhaus. Es war ein schlichter Gebetsraum, der auf den ersten Blick so gar nichts von dem Reichtum ausstrahlte, der überall in der Burg herrschte. Über dem winzigen Altar hing ein hölzernes Kruzifix. Der leidende Christus war allerdings sehr lebensnah gestaltet und mit ausdrucksvollen Farben bemalt. Sogar die Blutstropfen unterhalb der Dornenkrone waren zu erkennen. In einer kleinen Nische neben dem Altar stand eine ellengroße Marienstatue, die das Jesuskind im Arm hielt. Sie war ebenso fein geschnitzt und kunstvoll bemalt, eingehüllt in einen blauen Mantel, die Züge ihres Gesichtes mild und lieblich, die Augen barmherzig auf den Betrachter gerichtet. Über ihrem Haupt ein Heiligenschein, mit Blattgold verziert.
Kalte Nachtluft pfiff durch die Ritzen, und ein scharfer Wind rüttelte unbarmherzig an der Tür der ungeheizten Kapelle. Ungeachtet dessen entzündete Lena eine Kerze vor dem Bildnis der Jungfrau mit dem Kind. Obgleich sie sich tief ins Gebet versenkte, spürte sie schon bald, wie ihr die Kälte in den Leib kroch, zuerst in die Zehen, dann in die Knie, die auf den harten Boden drückten und ihr schmerzhaft jede Unebenheit der kalten Steinquader bewusst machten. Sie zitterte, wiederholte immer wieder das Ave Maria, das ihr stets ein Trost gewesen war, selbst in den dunkelsten Tagen, bevor Gott ihr die Gnade ihrer Heilgabe geschenkt hatte und sie so ihren Schmerz überwinden konnte.
Ave Maria, gratia plena,
Dominus tecum.
Warum kehrte der Schmerz jetzt zurück? Verlor sie ihre Gabe? Oder war es die Strafe dafür, dass sie der Gräfin gegenüber Zorn empfand?
Benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Iesus.
Warum war sie nur so wütend auf sie? An welchen Wunden rührte Elise?
Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus.
War es ihre fehlende Demut? Ihr verfluchter Stolz, der Anerkennung erwartete, die sie von Elise niemals erhalten würde?
Nunc et in hora mortis nostrae.
Je länger sie betete, umso weiter entrückten ihre Gedanken, wurden leichter, bis sie sich auflösten und die Worte des Gebetes zu Formeln wurden, die sie aufsagte, um etwas zu haben, das sie in der Wirklichkeit festhielt. Sie spürte die Kälte nicht mehr, obgleich ihre Füße und Hände längst taub waren. Alles, was danach kam, war das friedliche, ruhige Nichts, in dem es keinen Schmerz mehr gab.
»Frau Helena!« Aus weiter Ferne dröhnte die Stimme des Kaplans an ihr Ohr. Er hatte ihren Oberkörper leicht angehoben. Mühsam öffnete sie die Augen. Die ersten Strahlen des jungen Tages fielen in die kleine Kapelle und hinterließen einen Hauch von Wärme auf ihrem Gesicht.
»Gott sei Dank, Ihr lebt! Ihr seid völlig ausgekühlt. Was trieb Euch nur mitten in der Nacht aus der warmen Stube in die kalte Kapelle? Ihr hättet Euch den Tod holen können.«
»Ist nicht jede Stunde recht zum Beten?« Sie wunderte sich, wie rau ihre Stimme klang. Ihre Zähne schlugen heftig aufeinander. Irgendwann musste sie in der letzten Nacht in eine gnädige Ohnmacht gesunken sein. »Die Heilige Jungfrau hätte nicht zugelassen, dass mir in ihrem Haus etwas geschieht.«
»Sie mag über Eure Seele wachen, doch dürft Ihr den Körper nicht vernachlässigen. Könnt Ihr aufstehen?«
Ihre Zehen waren noch immer taub, kribbelten aber
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