Die Sündenheilerin (German Edition)
vorgeworfen hatte. Acht war er damals gewesen, hatte mit Said in den Gassen Alexandrias gespielt. Neugierig durch das Geschrei, waren sie näher gekommen, um schließlich fortzulaufen, als sie sahen, was geschah. Sie hatten nicht mehr darüber gesprochen, doch das Bild hatte ihn niemals losgelassen. Es waren dieselben Augen. Statt mit sanften Liedern ein Kind zu wiegen, wurden Frauen zu wilden Bestien und scheuten sich nicht, einen Menschen zu zerfleischen, wenn sie gottgefällige Rache zu üben glaubten. Männer, die alle Besonnenheit verloren und zu Schlächtern wurden, nicht besser als die Räuber, die sie vernichten wollten.
Das Raunen wurde lauter.
»Das ist einer der Mörder!«, schrie eine Frau. »Wenn einer ganz in Schwarz wie der Leibhaftige daherkommt …«
Ein Mann rannte auf Philip zu, versuchte, sein Bein zu packen und ihn vom Pferd zu zerren. Ein kurzer Tritt genügte, sich des Angreifers zu erwehren. Da erhob sich ein Geheul unter dem Pöbel, der Mann mit der Mistforke schickte sich an, seine Waffe zu schleudern. Philips Rechte glitt zum Schwert, während er sein Pferd herumriss. Aber die Menge hatte sich längst um ihn geschlossen. Er saß in der Falle. Wenn er sich wehrte, mochte er einige von ihnen töten, doch am Schluss würde es ihm nicht anders ergehen als dem alten Mann in den Gassen Alexandrias, damals, vor siebzehn Jahren.
»Hört auf mit dem Unfug!« Die Stimme des Grafen hallte scharf und befehlsgewohnt über den Dorfplatz. »Dieser Mann ist ein Reisender aus Ägypten und mein Gast. Wer ihn angreift, der greift auch mich an. Ich verbürge mich dafür, dass er nichts mit den Räubern gemein hat.«
Schlagartig verstummte die Meute. Philip atmete auf, seine Hand löste sich vom Schwertknauf. Die Menschen wichen zurück, bildeten eine Gasse für Dietmar, als er auf Philip zutrat.
»Sagt, Herr Philip, habt Ihr vielleicht auf Eurem Ausritt etwas Auffälliges bemerkt? Etwas, das uns helfen könnte, die Mörder zu fassen?«
Es wäre eine Unhöflichkeit gewesen, im Sattel zu bleiben, während der Graf vor ihm stand, also stieg Philip ab, obwohl er sich im Sattel sicherer gefühlt hätte. Die unmittelbar drohende Gefahr schien gebannt, doch das Misstrauen loderte trotz Dietmars Worten weiter in den Augen der Dorfbewohner.
»Was könnte Euch von Nutzen sein?«, fragte Philip und merkte, noch während er sprach, dass er Zeit gewinnen wollte. Zeit, um nachzudenken. Beim Anblick des toten Mädchens kehrten seine Schuldgefühle zurück. Hätte er es verhindern können, wenn er sich nicht seiner Leidenschaft ergeben hätte? Er wusste, wo sich das Lager der Räuber befand. Wenn man vor dem Morgengrauen mit einer kampferprobten Schar von hinten über den Felsen zugriff, war es ein Leichtes, sie zu überrumpeln. Dennoch zögerte er. Er kannte die fremden Gesichter nicht, die sich um die Toten versammelt hatten. Vielleicht stand der eine oder andere selbst mit den Räubern im Bund. Besser, er behielt sein Wissen für sich.
»Alles«, sagte Graf Dietmar. »Jeder kleine Hinweis könnte uns helfen, das Versteck der Wegelagerer zu finden.«
Philip atmete tief durch. Er musste ruhig bleiben, seine Schuldgefühle tief in der Brust verschließen. Auch wenn dort kaum noch Platz war, bei allem, was seine Seele seit einem Jahr belastete. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn die Menge ihn zerrissen hätte. Dann hätte er sich dem alten Schmerz nie mehr stellen müssen.
»Wo fand der Überfall statt?«
»An der Straße nach Halberstadt.« Dietmar ließ die Blicke wieder über das tote Mädchen wandern. »Sie war erst dreizehn.«
»Ich habe nichts bemerkt«, entgegnete Philip. Erst dreizehn. Auf einmal wünschte er, er selbst hätte Theas Schwert geführt, als sie Alwin den Kopf abschlug.
Graf Dietmar nickte schwach, dann winkte er einen kleinen Jungen herbei, der bis dahin seinen Fuchs gehalten hatte.
»Ich werde die Mörder finden und richten. Ich weiß, was ich den Menschen schuldig bin, die unter meinem Schutz stehen.« Dann stieg er in den Sattel und galoppierte davon.
Philip sah ihm nach. Hatte er Graf Dietmar die ganze Zeit falsch eingeschätzt?
Nachdem der Graf fort war, zerstreute die Menge sich langsam. Die hasserfüllte Glut war einer tiefen Trauer gewichen. Drei Männer schoben den Wagen mit den Toten zum Kirchhof, damit sie auf ihre letzte Ruhe vorbereitet werden konnten.
Niemand achtete mehr auf Philip, und so verließ er den Dorfplatz und suchte Eusebius’ Hütte auf.
Der Alte hatte
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