Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
zu hören war, verfolgte beispielsweise die aktuellen Nachrichten über die Buschbrände. Luke hatte unbedingt aufbleiben und auf den Weihnachtsmann warten wollen, aber der Sechsjährige in ihm hatte gegen halb zehn doch die Oberhand gewonnen und er war eingeschlafen, gerade als die Feuer das zehn Kilometer entfernte Brayshaw-Anwesen erreichten. Doreen hatte daraufhin den Fernseher und sämtliche Lichter ausgeschaltet. Sie hatte sich in die Küche zurückgezogen, das Radio ganz leise gestellt, die halb gefüllte Flasche Jim Beam neben sich postiert und in der Dunkelheit gewartet und gebetet, dass Luke durchschlafen würde.
»Komm doch mal gucken, Mummy. Ich kann ihn sehen, ganz weit weg. Seinen Schlitten. Er ist rot.«
Doreen rieb sich ihre brennenden Augen und trat ins Wohnzimmer, während ihr der Rauch der Zigarette in einer weißen Wolke durch den Raum folgte.
Doreen setzte sich neben ihren Sohn. Sie drückte die Zigarette im gläsernen Aschenbecher aus, fügte die Kippe dem immer höher wachsenden Haufen hinzu und drehte sich dann zu ihrem Sohn herüber. Sie strich einige feuchte Haarsträhnen aus seiner Stirn, unterdrückte ihre Tränen mit einem Schniefen und schaute aus dem Fenster.
»Siehst du?«, sagte Luke und zeigte hinaus. »Das kleine rote Licht da? Das ist er doch, oder? Er ist es wirklich.«
Doreen schaute aus dem Fenster. Sie sah die Spiegelung von einer der Lichterketten, die sich um den schäbigen alten Plastikbaum schlängelten. Sie brachte ein Lächeln zustande und wuschelte durch sein Haar. »Ja, ich glaube, das ist er«, sagte sie. »Der Weihnachtsmann kommt.«
»Und bringt mir ganz viele Geschenke?«
Es war jedoch weniger eine Frage als eine Feststellung, immerhin hatte Luke in den vergangenen Jahren immer Geschenke bekommen. Bisher war ihr Schlafzimmerschrank jedes Mal vor lauter Plüschtieren, Actionfiguren, Computerspielen, DVDs und natürlich den Klassikern wie Klamotten und Unterwäsche aus allen Nähten geplatzt.
Aber nicht in diesem Jahr.
Alles, was ihren Kleiderschrank in diesem Jahr aus den Nähten platzen ließ, waren Klamotten, die bereits Gefahr liefen, außer Mode zu kommen, ausgelatschte Schuhe und Kartons mit Fotoalben – Dinge, die leicht brennen würden.
Die Hälfte ihrer Habseligkeiten befand sich inzwischen in Kisten und wartete darauf, nach Nirgendwo abtransportiert zu werden. Seit sie vor zwei Monaten ihren Job bei der Bank verloren hatte, war ihr Leben in Kisten verpackt.
Doreen wandte ihren Blick der nachgemachten Kiefer zu. Sie hatte den Baum vor 20 Jahren gekauft, kurz nachdem sie und George geheiratet hatten. Sie hatten nicht genügend Geld für einen echten Baum gehabt. Aber das war egal gewesen. Es hatten trotzdem Geschenke darunter gelegen – genau wie in den folgenden 18 Jahren. Nur dass die Geschenke später unter einem echten Baum gelegen hatten – mit echtem Kiefernduft. Selbst als George sie vor fünf Jahren verlassen, seinen Porsche und ihren Glauben an die Liebe mitgenommen hatte, stapelten sich unverändert Geschenke unter dem Baum. Der falsche Plastikbaum war im Schrank geblieben: Sie hatte jedes Jahr einen echten gekauft, ihn geschmückt und gegossen und nach Neujahr in den Vorgarten geworfen, wo er allmählich braun wurde und im Sterben lag, bis er schließlich abgeholt wurde.
19 lange Jahre hatte der Plastikbaum gewartet. Und vor etwas mehr als 20 Tagen, als Luke geschmollt und Doreen wütende, verbitterte Kommentare ausgespuckt hatte – »Wir können uns dieses Jahr keinen echten Baum leisten.« – »Hör auf zu heulen und sei zufrieden mit dem, was du hast.« – »Ein richtiger macht sowieso viel zu viel Arbeit, und überhaupt, wir müssen Wasser sparen …« – wurde dem Plastikbaum endlich sein zweiter Auftritt gewährt.
So schließt sich der Kreis, dachte Doreen mit schwarzem Humor, während sie starr auf die gähnende Leere unter dem Baum blickte.
Als sie sich wieder dem Fenster zuwandte, sah sie ein weiteres Licht. Es war weiter entfernt und viel größer. Im Augenblick leuchtete es orange, als ginge die Sonne unter. Nur dass es nicht die Sonne war. Auch wenn das Licht ähnlich aussah, unterschied es sich in einem Punkt doch ganz deutlich vom Himmelskörper – es kam immer näher.
Während Tränen über ihre geröteten Wangen rannen, räusperte sich Doreen, um etwas zu sagen. Ihre Stimme krächzte und hüpfte aber trotzdem wie eine alte Schallplatte. »Möchtest du gerne ein kaltes Bad nehmen, Luke?«
Luke starrte weiter
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