Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
beiden Prostituiertenmorde noch einmal auf. Anschließend können Sie selbst entscheiden, ob hier ein Wahnsinniger sein Unwesen treibt oder wirklich ein Geist durch Melbourne spukt – der Geist jenes Mannes, der für eine Reihe von Untaten verantwortlich ist, die inzwischen als Jahrhundertverbrechen tituliert werden.
Frederick Deeming war ein Mann mit vielen Gesichtern. Der in Cheshire geborene Betrüger und Serienmörder galt als ebenso charmant wie skrupellos. Einer der weiblichen Passagiere an Bord der Kaiser Wilhelm II, jenes Schiffs, das Deeming und seine zweite Frau am 15. Dezember nach Melbourne brachte, erlebte diesen Widerspruch aus erster Hand. »Ich habe den Mann verabscheut, den ich als Albert Williams kannte«, so die 24-jährige, in Brisbane geborene Schneiderin Kate Jensen. »Gegenüber anderen Passagieren an Bord verhielt er sich oft unhöflich und überheblich. Er gab ständig mit seinen Auslandsreisen an und behauptete, bereits an mehr Orten gewesen zu sein, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben zu sehen bekämen. Er sagte, er habe gegen die Zulu in Afrika gekämpft – er präsentierte dann sogar oft ein Messer und protzte, wie viele Einheimische er damit getötet hätte. Dann, ohne offensichtlichen Anlass, wurde er mit einem Mal vollkommen paranoid und beschuldigte andere Passagiere, ihn bestohlen und zudem den wertvollen Schmuck seiner Frau entwendet zu haben. Wir hielten ihn allesamt für verrückt. Aber Emily gegenüber hat er sich stets sehr liebevoll und fürsorglich verhalten. Sie erzählte mir oft von seinen Gesten der Zuneigung und versicherte mir, wie aufgeregt sie waren, schon bald in Melbourne einzutreffen und dort gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Es schien fast, als lebten zwei Personen in seinem Körper.«
Doch Deemings seltsames Verhalten beschränkte sich nicht auf seine fantastischen Geschichten über Auslandsreisen oder die unvermittelten Bezichtigungen des Diebstahls.
»Meine Kabine auf dem Schiff befand sich direkt gegenüber der Kabine des Ehepaars Williams, daher habe ich vieles gesehen und gehört«, fährt Kate fort. »Ich habe gehört, wie Albert sich mit seinem Kanarienvogel unterhielt. Das waren wirklich ganz außergewöhnliche Unterhaltungen, die man gehört haben muss, um sie zu glauben.«
Fred Deeming brachte einen Kanarienvogel mit nach Melbourne, den er dem Vernehmen nach besser behandelte als seine eigene Frau. Laut dem Träger, den die frisch vermählten Eheleute anheuerten, um ihre Habseligkeiten in das neue Zuhause nach Windsor zu transportieren, reiste Fred gemeinsam mit seinem Kanarienvogel in der Kutsche, während Emily ganz allein mit der Straßenbahn zu ihrer künftigen Wohnung fahren musste. Nach dem Mord konnte man Fred häufig dabei beobachten, wie er in einem Sulky durch die Stadt fuhr und den Kanarienvogel in einem eleganten, aufwendig verzierten Käfig zur Schau stellte.
»Er sprach mit dem Vogel, als sei er ein menschliches Wesen«, erinnert sich Kate. »Manchmal berichtete er von seinen großen Taten in aller Welt und sprach stundenlang ohne Unterlass von seinen heldenhaften Abenteuern auf den sieben Weltmeeren oder beim Kampf gegen die Zulu. Hin und wieder hörte ich ihn auch mit dem Vogel lachen, so als erzählten sie einander die herrlichsten Witze. Bei anderen Gelegenheiten bekam ich mit, wie er sehr wütend wurde. Für gewöhnlich sprach er dann über so entsetzliche Dinge wie Krankheiten, Mord und Totschlag. Wann immer er mit dem Kanarienvogel über seine Mutter sprach, fing er am Ende an zu weinen. Es war wirklich furchtbar traurig, aber auch überaus seltsam. Wie ich bereits sagte, wir hielten ihn alle für verrückt, aber ich hätte niemals gedacht, dass er zu solch schrecklichen Taten fähig ist – noch habe ich jemals den Verdacht gehegt, er könne seine erste Frau und seine drei Kinder ermordet haben. Mir gefriert das Blut in den Adern, wenn ich daran denke, dass ich während der ganzen Zeit, in der wir uns an Bord des Schiffes befanden, in so unmittelbarer Nähe zu ihm geschlafen habe.«
Als wir sie fragen, ob sie es für möglich hält, dass Fred und Jack the Ripper ein und dieselbe Person sind, stößt Kate ein nervöses Lachen aus und antwortet: »Es ist schwer, sich vorzustellen, dass ein englischer Gentleman eine so furchtbare Tat begangen haben soll wie das, was Jack diesen armen Frauen zumutete – selbst wenn man weiß, was Albert seinen beiden Ehefrauen und seinen Kindern angetan hat. Und dennoch …« Ein
Weitere Kostenlose Bücher