Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
ENTSTEHUNG:
Diese Geschichte ist beinahe vollkommen autobiografisch – ich sage beinahe, weil ich natürlich nie von einem Troll unter unsere Garage gezerrt wurde. In dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, gab es ebenfalls einen schmalen Streifen zwischen unserem Gartenhäuschen und unserer Garage sowie dem Zaun unserer Nachbarn. Ich hatte schreckliche Angst vor dieser Ecke des Gartens. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum. Vielleicht habe ich mich einfach nur davor gefürchtet, von einer Spinne oder sogar einer Schlange gebissen zu werden. Aber ich glaube, diese schmale Gasse hatte noch etwas anderes an sich, das mir Angst machte.
Ich glaube, es war die Angst vor dem Unbekannten – die meiste Zeit war die Ecke mit hohem Gras zugewachsen und in meiner Fantasie hätte sich dort praktisch alles verstecken können. Ich hasste es, mich dort hineintrauen zu müssen, was manchmal unvermeidlich war, wenn ich aus Versehen einen Ball dort hingeschlagen oder -geworfen hatte. Aber ich habe es getan – auch wenn ich es jedes Mal so schnell wie möglich hinter mich gebracht habe und immer wie angestochen aus der engen Nische herausflitzte, wobei ich stets fest damit rechnete, entweder den stechenden Biss von Reißzähnen an meinen Knöcheln zu spüren oder von irgendetwas Bösem an den Beinen gepackt zu werden, das mich unaufhaltsam mit sich reißt.
Wenn mein Cousin zu Besuch war, stachelte er mich fast jedes Mal dazu an, ihm zu beweisen, wie weit ich mich auf den schmalen Streifen vorwagte, bevor ich zu große Angst bekam und wegrannte. Ich kann mich nicht daran erinnern, je mehr als die halbe Strecke bis zur Mauer am anderen Ende geschafft zu haben. Erst Jahre später, als ich im Teenageralter war und helfen musste, das Unkraut zu schneiden, schaffte ich es durch die komplette Gasse, die zwischen der Garage und dem Zaun lag. Aber selbst dann waren die Ängste meiner Kindheit nie sehr weit entfernt.
Weihnachtliches Leuchten
(Christmas Lights)
Doreen war in der Küche, als Lucas aufwachte.
Sie saß in sich zusammengesunken auf einem der beiden Barhocker, die neben der Bank standen, balancierte eine Zigarette zwischen ihrem rechten Zeige- und Mittelfinger und hörte Radio. Die Küche lag wie der Rest des Hauses in beinahe vollkommener Dunkelheit. Das einzige Licht kam aus dem Wohnzimmer von der bunten Lichterkette, die sich um den Weihnachtsbaum schlängelte.
»Mummy, guck mal, ich kann den Weihnachtsmann sehen!«
Doreen zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres sechsjährigen Sohnes hörte, nuschelte irgendetwas Unschönes, streckte einen Arm aus und schaltete das Radio aus. »… die Brände, die im Hinterland von Victoria wüten, breiten sich aus …« Sie leerte den restlichen Jim Beam, nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, glitt mit einem noch tieferen Seufzer von ihrem Hocker und ging ins Wohnzimmer rüber.
Lucas, ihr liebes kleines Baby – der ist kein Baby mehr, der Junge ist schon richtig groß! Der Gedanke traf sie wie ein Hieb mit einem Vorschlaghammer auf der Brust – saß aufrecht auf der Couch vor dem vorderen Fenster. Er trug nur seine rote Unterhose und der Schweiß auf seinem dicklichen Körper glänzte blau, rot, grün und gelb. Wie bei seiner Mum klebte das blonde Haar an seinem Kopf und er sah aus, als sei er eben erst aus der Dusche gestiegen. Der Ventilator, der in der Mitte des Zimmers stand, drehte sich wie ein wachsames Auge, aber seine wirbelnden Rotorblätter erzeugten keine besonders erfrischende Kühle – das verdammte Ding schluckte nur unnütz Energie.
Doreen lehnte im Türbogen zum Wohnzimmer, nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette, blies den Rauch aus und sagte: »Was hast du gesagt, mein Schatz?«
Ohne sich umzudrehen, flüsterte Luke – wie er seit Neuestem genannt werden wollte, seit er seine Faszination für die Krieg der Sterne -Filme entdeckt hatte – voller Ehrfurcht: »Ich kann den Weihnachtsmann sehen. Er kommt. Er kommt wirklich.«
Doreen blieb im Türbogen stehen, der das Esszimmer vom Wohnzimmer trennte. Sie wäre gerne zu ihrem Sohn gegangen und hätte sich neben ihn gesetzt, sie wollte ihn festhalten und ihn trösten. Sie wusste, dass sie es bald würde tun müssen. Aber sie wusste auch, dass sie nie wieder aufstehen würde, wenn sie sie sich erst einmal zu ihm gesetzt hatte.
Luke war vor ein paar Stunden vor einer Weihnachtssendung im Fernsehen eingeschlafen. Doreen hatte nur mit einem Auge hingesehen. Sie interessierte sich eher dafür, was im Radio
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