Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
verflucht?«
»Wenn er dich kommen hört, wird er sie beide umbringen. Falls du sie überhaupt findest, was sicher nicht passieren wird. Spar dir also das Benzin.« Ray erhob sich. Er war zu mitgenommen, um einfach nur dazusitzen. Er musste sich bewegen.
»Okay, wenn du meinst«, seufzte Jerry und ließ sich wieder auf den Sessel plumpsen. »Aber was zur Hölle will dieser Typ denn? Er muss doch irgendwas wollen. Was hat es für einen Sinn, deine Familie zu entführen?«
»Er will gar nichts«, antwortete Ray. »Kein Geld, gar nichts. Nur …« Während er auf und ab ging, kreisten in seinem Kopf die Worte, die der Kidnapper zu ihm gesagt hatte.
»Nur was? «, fragte Jerry und reckte seinen Hals, um Ray sehen zu können.
»Ich hab ihn gefragt, was er will. Ich hab ihm gesagt, dass ich alles tun würde. Ihm alles geben würde. Aber er hat nur gelacht und gesagt, alles, was er wollte, sei ein bisschen Spaß.«
»Mein Gott«, sagte Jerry und wandte sich kopfschüttelnd ab.
Ray versetzte seinem alten Kartentisch, der an einer Seite des Zimmers stand und vom jahrelangen Gebrauch mit Bier- und Ascheflecken überzogen war, einen Tritt. Eines der Tischbeine brach ab. »Scheiße!«, brüllte er. »Wie konnte das passieren? Wie konnte irgendein Fremder einfach so in mein Haus eindringen und meine Frau und mein Kind mitnehmen?«
»Gott, ich wünschte, ich wüsste, wo er ist«, sagte Jerry. »Ich hab mein Gewehr im Van.«
Ray nutzte weiter den Teppichboden zwischen dem Fernseher und der Küchentür ab. »Okay, lass mich nachdenken«, sagte er.
»Worüber nachdenken?«
»Was meinst du? Wen soll ich auswählen?«
Jerry verzog das Gesicht. »Du willst dich doch nicht wirklich entscheiden, oder? Scheiße. Das kannst du nicht, Ray.«
»Ich muss. Ich muss mich für eine von beiden entscheiden, um die andere zu retten.«
»Aber … komm schon.«
»Was schlägst du dann vor?«, knurrte Ray, blieb stehen und starrte Jerry an. »Meine Frau und mein Kind sind irgendwo da draußen in der Hand dieses psychopathischen Wichsers. Und wenn ich mich nicht entscheide, welche von beiden sterben soll, dann wird er sie beide foltern. Und weißt du, was er mir noch gesagt hat? Dass er einen ganzen Kofferraum voller Werkzeuge hat – Zangen, Metallsägen, Hämmer, Nägel … Scheiße, Mann. Ich will noch nicht mal dran denken, was er damit anstellen könnte.« Ray holte tief Luft, die er dringend benötigte. Er fühlte sich ganz schwindelig. Er hätte wirklich ein Bier vertragen können. »Wir haben keine Ahnung, wo sie sind, und ich hab nur noch …« Er schaute auf Jerrys Uhr hinunter.
»14 Minuten«, sagte Jerry.
»14 verfluchte Minuten, bevor er wieder anruft und eine Antwort will.« Ray ging wieder auf und ab. »Okay. Wir machen ’ne Liste.«
»’ne Liste?«
»Du weißt schon, eine von diesen Pro-und-Kontra-Listen.«
»Du kannst doch nicht so tun, als würdest du ’nen verfluchten Einkaufszettel schreiben, Ray. Wir sprechen hier vom Leben deiner Frau und deines Kindes.«
»Das weiß ich«, erwiderte Ray, »aber das ist die einfachste Methode, die mir einfällt, um eine Entscheidung zu treffen. Oder hast du ’nen besseren Vorschlag? Was, wenn Carol und Brad entführt worden wären und du wählen müsstest, wer umgebracht werden soll? Wie würdest du das entscheiden?«
»Das is’ einfach. Brad ist ’n Loser. Ein beschissener Junkie. Ich würde ihn wählen.«
Ray stieß ein kurzes, beinahe wahnsinniges Lachen aus. »Schlechtes Beispiel.«
»Wie dem auch sei. Bei dir ist das anders. Du hast eine tolle Tochter und eine tolle Frau.«
»Deshalb mach ich ja auch ’ne Liste«, sagte Ray. Er stürzte in die Küche, schnappte sich einen Notizblock und einen Bleistift und brachte beides ins Wohnzimmer. Er setzte sich auf die Couch und zeichnete eine einfache Tabelle auf. Vier Spalten – je einmal Pro und Kontra für Kim und für Rebecca. »Fangen wir mit Kim an«, sagte er. »Okay. Pro – ich liebe sie.«
»Du liebst sie beide.«
»Ja, es ist ja auch nur ein Anfang. Mein Gott. Okay, wie ist es damit: Ich kenne sie schon länger, deshalb werde ich sie auch mehr vermissen.« Er kritzelte es auf das Papier.
»Wenn du meinst«, sagte Jerry. »Aber man kann das auch anders sehen: Da du sie schon länger kennst, hast du schon mehr Zeit mit ihr verbracht. Das ist ein Kontra.«
Zögernd schrieb Ray es auf.
»Außerdem hatte sie schon ein längeres Leben. Sie hat schon mehr gesehen und mehr erlebt.«
Er notierte es in der
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