Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
rufe einen Notarzt«, sagte der Reverend. »Machen Sie sich keine Sorgen.«
Aber der Mann packte den Reverend am Unterarm und hielt ihn mit aller Kraft fest. »Lassen Sie mich los«, krächzte der Reverend. »Ich muss den Notarzt rufen.« Er versuchte, die Finger des Mannes zu lösen, aber sie gaben nicht nach. »Hören Sie auf!«, brüllte der Reverend.
Doch der Mann packte ihn noch fester, so fest, dass der Reverend erwartete, jeden Moment das Geräusch seiner brechenden Knochen zu hören.
Er klammerte sich an der Hand des Mannes fest, und gerade, als er schon aufgeben wollte, hörte der Mann auf, zuzudrücken. Das Blut, das aus seinem Mund strömte, verfärbte sich schwarz und seine angsterfüllten Augen quollen weit aus ihren Höhlen hervor.
Mit einem letzten Husten fiel der Mann rückwärts aufs Bett. Die Hand, mit der er den Reverend festgehalten hatte, baumelte über dem Boden.
Der Reverend blieb einen Moment lang völlig fassungslos und wie vom Blitz getroffen stehen.
Dann streckte er vorsichtig seine zitternde Hand über den Körper des Mannes, legte sie an dessen Hals und fühlte mit zwei Fingern den Puls des Fremden.
Wie er bereits befürchtet hatte, fand er keinen. Er legte seinen Kopf auf die Brust des Mannes und horchte. Er konnte keinen Herzschlag hören.
Der Reverend bekreuzigte sich hastig und sprach ein Gebet.
Er öffnete seine Augen wieder und starrte auf den Verstorbenen hinunter. Ihm fiel auf, dass er noch nicht einmal den Namen des Mannes kannte.
Er streckte seinen Arm aus und griff nach dessen Hand.
»Es ist gut«, sagte er mit sanfter Stimme. »Der Herr wird sich um dich kümmern.« Er tätschelte die erschlaffte Hand und legte sie vorsichtig auf den blutigen Brustkorb des Mannes.
Dann drehte er sich um und verließ das Schlafzimmer. Der Reverend ging ins Wohnzimmer zurück, in dem das Feuer noch immer hoch im Kamin loderte, und ließ sich auf seinen Sessel fallen. Er würde einen Notarzt rufen müssen. Bis gerade eben hatte er geglaubt, dass er das nie wieder tun musste. Er versuchte sich zu bewegen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Eigentlich war es ja auch gar kein Notfall mehr.
Der Mann war bereits tot. Trotzdem: je früher, desto besser.
Er sah zu dem Bild hinauf, das an der Wand hing. Es erfüllte ihn mit entsetzlichem Kummer. Als er noch ein junger Mann gewesen war, hatte er geglaubt, alles im Leben erfülle einen bestimmten Zweck. Alle Kreaturen, egal, ob gut oder böse, hielten sich aus einem bestimmten Grund auf dieser Erde auf.
Er hatte geglaubt, jeder Moment in ihrem Leben sei für die Menschen Teil eines Lernprozesses.
Daher hatte er es auch als Weg des Herrn betrachtet, wenn jemandem eine Tragödie widerfuhr. Als etwas, das geschehen musste, damit die Menschen daraus eine Lehre zogen und anschließend – hoffentlich – ein erfüllteres, sinnvolleres Leben führten.
Früher hatte er das geglaubt.
Zum ersten Mal zweifelte er daran, als seine Frau vor zwei Jahren an einem Gehirntumor starb. Dabei zuzusehen, wie sie allmählich an Kraft verlor, war das Herzzerreißendste gewesen, was seine Augen und seine Seele je hatten verkraften müssen.
Und als sie schließlich gestorben war, hatte er diese entsetzliche Leere in sich gespürt. Der Herr hatte ihm keinerlei Trost gespendet. Er hatte keine Hilfe von der Kirche gewollt.
In der Nacht, in der sie gestorben war, hatte er auf dasselbe Bild gestarrt und zum allerersten Mal keine Freude und keinen Trost in der Gestalt Christi gefunden, der sein Leben geopfert hatte, um die Menschen zu retten.
In den folgenden Jahren hatte er seinen Glauben immer wieder infrage gestellt.
Er ging pflichtschuldig weiter zur Kirche und hielt seine Predigten, betete sogar weiterhin jeden Abend, auch wenn er sich manchmal bei dem Gedanken ertappte, dass er es nur noch aus Gewohnheit tat.
Und nun dieser Fremde.
Sein Tod schien völlig sinnlos gewesen zu sein. Welchen Sinn konnte er schon gehabt haben, wenn er selbst doch absolut willens gewesen war, dieser unglücklichen Seele zu helfen?
Je älter der Reverend wurde, desto weiter schrumpfte sein Glaube an Sinn und Vorsehung. So weit, dass er in diesem Augenblick, da er auf das glänzende Bildnis Christi blickte, nur noch Wut empfand.
Er streckte einen Arm aus und griff nach dem Telefonbuch.
Ein schwaches Licht flackerte in den Raum. Der Reverend ließ das Telefonbuch sofort wieder fallen und erhob sich.
Er ging in die Küche, schaltete das Licht jedoch nicht an, sondern stellte
Weitere Kostenlose Bücher