Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
den Rücken. Was es aber noch schlimmer machen würde, wäre die Tatsache, dass es sehr wohl einen Ausweg gibt: das Licht sehen zu können oder eine Tür, aber eben nicht in der Lage zu sein, sie zu erreichen. Du steckst einfach nur fest, kannst dich nicht bewegen und nichts weiter tun, als der Verlockung der Freiheit ins Gesicht zu starren und zu warten …
The Song Remains the Same
(The Song Remains the Same)
Dr. Eric Stelig hatte in den vielen Jahren als Leiter des Staatsgefängnisses für geisteskranke Straftäter in Baltimore noch nie zuvor etwas Derartiges zu Gesicht bekommen. Er stand am Rand des Aufenthaltsraums von Station C, die liebevoll als »Psycho-Station« bezeichnet wurde, und schnappte angewidert nach Luft. In seinem Leben hatte er zwar schon ein paar ziemlich abstoßende Dinge gesehen, aber das hier war mit Abstand das Schlimmste. Nicht, weil es ekelhafter gewesen wäre als alles zuvor, denn das war es nicht. Nein, dies hier war aufgrund seiner Bedeutung besonders furchtbar.
»Wie konnte das nur passieren, verdammt noch mal?«, murmelte Stelig.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Adams mit einem langen Seufzen.
Stelig drehte sich um und warf einen Blick auf den Oberarzt. Der kleine, allmählich kahl werdende Mann schwitzte und sah aus, als habe er Schmerzen. »Warum wurde das nicht verhindert? Mein Gott, was kommt denn als Nächstes? Ein verfluchter Ausbruch?«
»Es ging alles so schnell, Sir. Wir konnten es nicht aufhalten.«
»Die Antwort reicht mir nicht«, knurrte Stelig. »Was zur Hölle habt ihr Idioten bloß getrieben, als das passiert ist?«
Adams stotterte irgendetwas Unverständliches.
»Wahrscheinlich die Schwestern gevögelt oder davon geträumt, die Schwestern zu vögeln.« Stelig schüttelte den Kopf und blickte wieder auf das Blutbad. »Wie zur Hölle sollen wir das bitte vertuschen?«
Sie konnten den Tod von einer, vielleicht auch zwei Personen vertuschen – das hatte er in der Vergangenheit schon oft genug getan –, aber gleich 14 Leichen? Wie zum Teufel sollten sie den Tod von elf Geisteskranken und drei Schwestern vertuschen?
Stelig schaute sich in dem riesigen Raum um, der von oben bis unten mit Blut und Kot beschmiert war, und sah sich die 14 Toten an. Jedem Einzelnen von ihnen war die Zunge entweder abgebissen oder komplett aus dem Mund gerissen worden. Er erschauderte.
Wie kann ein einziger Mensch nur so etwas tun?, fragte er sich.
»Wo ist Warren jetzt?«, wandte sich Stelig an Adams.
»Auf der Krankenstation.«
»Was? Warum habt ihr ihn nicht eingesperrt?«
»Wir haben ihn da in der Ecke gefunden.« Adams deutete auf die linke hintere Ecke des Raumes. »Er lag in Embryostellung da, hat geweint und irgendwas vor sich hin gemurmelt. Nur unverständliches Kauderwelsch.«
Stelig schnaubte. »Dann ist der verfluchte Psychopath jetzt eben komplett durchgedreht. Hier sind schließlich alle durchgedreht. Warum ist er auf der Krankenstation, verdammt noch mal?«
»Weil seine beiden Trommelfelle durchbohrt sind.«
Stelig stöhnte. »Mein Gott. Hat er sich das selbst angetan?«
Adams zuckte mit den Schultern. »Sieht ganz so aus. Wir haben ein Plastikmesser neben ihm gefunden. Scheiße, wissen Sie, wie fest er hätte zustoßen müssen, um …«
»Dann ist Warren jetzt also taub?«, schnitt Stelig ihm das Wort ab.
»Äh, ja. Scheint so.«
»Aber er kann noch sprechen, oder?«
»Wenn Sie denn Unsinn, der aus seinem Mund kommt, als Sprechen bezeichnen wollen, dann ja. Er kann noch sprechen.«
Stelig wandte sich von dem Massaker ab. Seine Augen waren dankbar für die neue Aussicht. »Lassen Sie uns gehen. Vielleicht bekomme ich ja doch ein paar Antworten aus ihm heraus. Scheiße, ich will wissen, warum er das getan hat. Warum er vielleicht im Alleingang meine verdammte Karriere zerstört hat.«
Davor …
Der Mann sitzt in der Ecke, schaut ins Leere und summt leise. Er tut den ganzen Tag nichts anderes, als in der Ecke zu sitzen und zu summen.
Er spricht nicht mit den anderen, aber nicht, weil er sie hasst, sondern weil er dafür seine glorreiche Hymne unterbrechen müsste.
Selbst jetzt, als der schwarze Mann mit dem komischen, haarigen Ding um ihn herumwischt, hört er nicht auf zu summen. Wie ein Kolibri, so nennt ihn der schwarze Mann.
»Hey, Kolibri. Wie geht’s dir heute?«
Der Mann lächelt flüchtig, unterbricht sein Lied aber keinen Augenblick lang, lässt nicht einen einzigen Ton aus. Er darf keinen Ton auslassen, sonst verliert er seine innere
Weitere Kostenlose Bücher