Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
Mann hat mit angehört, wie sich der böse Mann in den fünf Jahren verändert hat. Hat gehört, wie der böse Mann immer wütender und verwirrter wurde. Ohne den bösen Mann je zu sehen, hat er diese Veränderung bemerkt. Immer öfter wird der böse Mann festgebunden. Immer öfter fängt der böse Mann an zu schreien und mit Sachen um sich zu werfen. Aber niemand weiß Bescheid. Die Männer in Weiß wissen nicht, was den bösen Mann so wütend macht. Sie hören das Summen des Mannes durch das Loch in der Wand nicht. Sie wissen, dass er summt, aber sie wissen nicht, dass er den bösen Mann ansummt. Wissen nicht, dass er den Kopf des bösen Mannes jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick mit seinem lyrischen Wahnsinn füllt.
Es ist ein Geheimnis. Zwischen dem bösen Mann und ihm selbst – und vielleicht dem schwarzen Mann, aber der wird ihn nicht verraten.
Der Mann hört den bösen Mann weinen. Ein sanftes Schluchzen dringt durch das Loch in der Wand zu ihm herauf.
»Warum hörst du nicht auf? Bitte, hör auf.«
Aber der Mann summt weiter.
Und der böse Mann weint weiter.
Es macht den Mann glücklich, zufrieden. Fast so glücklich wie damals, als er Julie und Sam und der kleinen Debbie die Kehle aufgeschlitzt hat. Jetzt ist alles still. Der Mann kann das Weinen des bösen Mannes nicht mehr hören. Der Mann summt weiter, aber er horcht auch. Horcht angestrengt darauf, was hinter dem Loch in der Wand und Julies lächelndem Gesicht passiert.
Ein wenig Zeit vergeht, etwa fünf Minuten, bevor der Mann Geräusche hinter dem Loch in der Wand hört. Entfernte Geräusche, aber trotzdem deutlich.
Summend horcht der Mann weiter. Und hört Schreie. Jede Menge Schreie. Aber er hört auch den bösen Mann – der ebenfalls schreit, aber es sind unverständliche Schreie – und das einzige Wort, das er versteht, ist »aufhören«.
Der Mann fragt sich, was dort vor sich geht. So etwas hat er noch nie zuvor gehört, nicht in all den fünf Jahren, in denen er den bösen Mann schon ansummt.
Die Aufregung dauert gut 20 Minuten an. Schwache Schreie, zerbrechende Stühle und Betten, verstummende und wiederkehrende Stimmen, die dann erneut verstummen. All das schwirrt im Kopf des Mannes herum und einen Moment lang verliert er seinen Rhythmus und hört auf zu summen.
Visionen von Julies Körper, zerfetzt und blutig, füllen seinen Kopf. Bilder von Sam, der sich auf dem Boden windet und seine Kehle umklammert, aus der Blut spritzt. Die kleine Debbie, wie sie auf ihrem Bett kauert, die Bettdecke ganz fest um ihr Gesicht gewickelt, aus der ihre angsterfüllten, feuchten Augen herausschauen. Sie alle verschmelzen zu einer grandiosen Spukgestalt aus Blut und Fleisch.
Als die Vision verblasst, hört der Mann, dass auch die ferne Aufregung vorüber ist. Keine Schreie mehr, keine zerberstenden Möbel.
Der Mann spürt, wie seine innere Ruhe allmählich schwindet. Als ihm bewusst wird, dass er aufgehört hat zu summen, fängt er wieder von vorne an und fühlt sich gleich viel besser.
Nun ist alles ruhig – bis auf ein einsames Schluchzen. Der Mann weiß sofort, dass es der böse Mann ist, der weint. Nur dieses Mal ist es ein anderes Weinen – glücklich, erleichtert, nicht das wütende Schluchzen, an das sich der Mann gewöhnt hat.
Vielleicht haben sie den bösen Mann wieder ruhiggestellt.
Doch als der Mann die Schreie hinter dem Loch in der Wand hört – Schreie, die ganz gewiss von den Männern in Weiß stammen, Schreie wie »Oh, mein Gott!« und »Was zur Hölle ist hier passiert?« – weiß er, dass etwas Schreckliches geschehen ist. Der böse Mann hat etwas Schreckliches getan.
Aber das wusste der Mann bereits.
Er hat erwartet, dass es passieren würde. Er war sich nicht sicher, wann es passieren würde, aber er wusste, dass es passieren würde. Er hat darauf gehofft, dafür gebetet, es geplant.
Und das Beste ist – niemand weiß es. Es ist sein kleines Geheimnis.
Seines und das des bösen Mannes.
Der Mann summt weiter und starrt ins Leere.
Danach …
Stelig stand am Rand des Aufenthaltsraums auf Station D, schaute sich um und schüttelte den Kopf. »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit. Warren ist verrückt. Er ist ein Lügner.«
»Er mag vielleicht ein kaltblütiger Killer sein, aber er ist kein Lügner. Scheiße, er hat seine Verbrechen doch sofort gestanden, als die Bullen ihn festgenommen haben.«
»Ja, aber einem anderen die Schuld daran zu geben, was er heute getan hat … Mein Gott, was für ein
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