Die Sünderin von Siena
fühlen würde. Doch es war schwer für Matteo, all diese widersprüchlichen Empfindungen ausschließlich mit sich selber auszumachen.
Nach seiner Rückkehr hatte er die besudelte Kleidung sofort verbrannt und sich so lange von Kopf bis Fuß geschrubbt, bis seine Haut geprickelt hatte. Die neuen Zeichnungen hatte er zu den alten ganz unten in der Truhe gelegt und war danach in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen. Nach dem Aufwachen war er noch immer kaum in der Lage gewesen, etwas Essbares hinunterzubringen, und hatte sich mit einem Kanten Brot und einem halben Napf Ricotta begnügt. Fleisch anzurühren war ihm gänzlich unmöglich geworden; allein der Gedanke daran verursachte ihm unüberwindbaren Ekel.
Erst heute fühlte er sich halbwegs in der Lage, einen ersten Vergleich anzustellen, und selbst das fiel ihm noch immer sehr schwer. Nicht einmal der halbe Krug Wein, den er geleert hatte, brachte ihm Entspannung. Müde war er und hellwach zugleich, hatte sich einige Male vergewissert, ob die Tür auch wirklich verschlossen war, und die Fensterläden mehrfach kontrolliert. Jetzt gab es nichts mehr, was er noch hätte tun können.
Mit einem tiefen Seufzer öffnete Matteo die Eichentruhe. Die alten Kleider und die gefaltete Leinwand, die alles verdeckte, leerte er ungeduldig aus, bis seine Hand Pergamente ertastete: Die geheimen Aufzeichnungen des Alchemisten!
Eigentlich hätte er die Pergamente sorgfältig durchzählen sollen, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich noch vollständig waren, doch dazu war er jetzt viel zu ungeduldig. Er packte sie beiseite, weit genug entfernt von seinen Wachsstöcken, die er in ungewohnt verschwenderischer Zahl aufgestellt hatte, um ausreichend Licht zu haben.
Dann legte er die Blätter mit den alten und neuen Zeichnungen auf dem Boden aus und versuchte, eine Art Ordnung in die Abfolge zu bekommen. Die ersten Zeichnungen zeigten Mauros Lunge, in hastigen Kreidestrichen auf die Unterlage geworfen. Das Durchtrennen der Rippen war Matteo wie schon beim ersten Mal besonders nahe gegangen, ein leises, aber durchdringendes Geräusch wie das Knacken kleiner Zweige, das noch jetzt hässlich in seinen Ohren klang. Vielleicht hatte er deswegen zu wenig Sorgfalt auf die Darstellung der Lunge verwendet. Offenbar ein Fehler, wie er nun feststellen musste, da er sie so nicht direkt mit der seines Sohnes vergleichen konnte, die er damals mit ihrer netzartigen Zeichnung um vieles genauer dargestellt hatte.
Den Nieren hatte er nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Beide Zeichnungen wirkten rudimentär, waren eher Skizzen als sorgfältige Kreidezeichnungen, was er nun bedauerte. Er nahm sich als Nächstes die beiden Abbildungen der Leber vor und verglich sie miteinander. Auf den ersten Blick hätte man die Leber für die kleiner Schweine halten können, wie sie in den Geschäften der Metzger ausgestellt waren. Er schämte sich sofort für diesen ketzerischen Gedanken, spürte abermals die Unzulänglichkeit seiner hastigen Skizzen.
Wie in aller Welt sollte sich jemals etwas Auffälliges feststellen lassen, wenn er, der Not der knappen Zeit gehorchend, derart nachlässig gearbeitet hatte? Der Tod ließ sich nicht so leicht auf die Schliche kommen, das hatte er ihm schon bei Giuseppes Sterben eindrucksvoll bewiesen. Und offenbar schien der Meister der Sense entschlossen, Matteo bei diesem neuerlichen Versuch alle Hilf- und Machtlosigkeit noch eindrucksvoller vorzuführen.
Der Maler spürte, wie seine innere Zerrissenheit zunahm, griff zum Weinbecher, schob ihn dann aber wieder weg. Es half nichts, sich zu betäuben! Er wollte und musste etwas finden – falls es da etwas zu finden gab.
Er blätterte die Zeichnungen weiter durch, legte sie nebeneinander, erwog, verglich. Die Größe der Organe erschien nahezu gleich, da die Kinder bei ihrem Tod beinahe gleich alt gewesen waren. Zwei kleine Mägen, die er beide geöffnet hatte. Das Innere hatte er beide Male nur andeutungsweise wiedergegeben, doch jetzt erinnerte er sich plötzlich: Ja, bei Giuseppe war alles rosa und faltig gewesen, das wusste er noch genau. Bei Mauro dagegen hatte er im Magen und dem anschließenden Darmstück, das sich zuerst hartnäckig dahinter versteckt hatte und das er mühsam hervorholen musste, unregelmäßige, teils schwarze, teils tiefgrüne Ablagerungen entdeckt, die sich nicht hatten entfernen lassen. Da ihm die entsprechende Kreidefarbe fehlte, hatte er diese Farbabweichung am Rand der Zeichnung in
Weitere Kostenlose Bücher