Die Sünderin von Siena
fahriger Schrift notiert, todmüde und so überreizt von all den Eindrücken, dass er auf der Stelle hätte losschreien mögen.
Aber was hatte das zu bedeuten?
Ein Gift, das man dem Kleinen verabreicht hatte, um ihn zu töten? Hing damit der entsetzliche Durst zusammen, über den Mauro kurz vor seinem Ende geklagt hatte? Oder lag genau hier das Geheimnis eines natürlichen Todes begründet, das Matteo nur nicht verstand? Es gab niemanden, den er dazu hätte befragen können, ohne sein strengstens verbotenes Treiben zu offenbaren. Auch an den Apotheker konnte er sich nicht wenden, der dazu sicherlich noch am meisten gewusst hätte.
Wieder langte er nach dem Becher, und jetzt leerte er ihn in einem Zug. Verzweiflung breitete sich in ihm aus, gemischt mit jener bitteren Traurigkeit, die er von damals kannte. Was er getan hatte, war vergeblich gewesen, das tat besonders weh. Er hatte die Leichenruhe des Kleinen gestört, ohne auch nur einen einzigen brauchbaren Hinweis zu erhalten. Mechanisch schichtete Matteo die Blätter zu einem Stapel und legte sie zurück in die Truhe. Darüber breitete er eine Stoffschicht, und schon wollte er als Nächstes die alchemistischen Schriften darüberlegen, da fiel ihm plötzlich eines der Pergamente aus der Hand.
Im warmen Schein der Wachsstöcke wirkte der sorgfältig gezeichnete Salamander fast lebendig. Als er das Blatt aufhob, begann er unwillkürlich zu lesen.
Der Salamander ist ein Türöffner und Wandler zwischen den Welten, das uralte Symbol der Transformation. Nichts ist so, wie es scheint. Geschlecht ist in allem, alles hat weibliche und männliche Prinzipien. Geschlecht offenbart sich auf allen Ebenen. Seine Himmelsrichtung ist der Süden, doch er vereint alle Elemente in sich. Stirb und werde! Sein tiefes Geheimnis trägt der Salamander bis zur Stunde seines Todes in sich …
Matteo verstand diese geheimnisvollen Sätze um keinen Deut besser als damals, als er sie zum ersten Mal las. Dafür standen ihm abermals jene schwülen Nächte vor Augen, in denen der Meister und er die Kopien in nahezu besessener Hast gefertigt hatten, ständig in Angst, aufgeschreckt und entdeckt zu werden. Nach des Meisters Tod hatte Matteo die Unterlagen an sich genommen, bevor dessen habgierige Neffen sie entdecken konnten, die am liebsten jeden Ziegel des Hauses zu Geld gemacht hätten. Inzwischen bereute er, was er getan hatte, denn er wurde die Pergamente nicht so einfach wieder los.
Er musste weiterlesen, er konnte nicht anders:
Die Hermitici Adepti haben den Gebrauch der Jugend zu erneuern gelernet, von dem Meervogel Halycon, dem Adler, Krebs, den Schlangen und dem Salamander, allen dergleichen Thieren, die fast alle Jahre ihre alte Haut ablegen und ihr Alter erneuern, gleich sam wieder jung werden …
Ein endloser lateinischer Text schloss sich an, den damals ein anderer aus dem engeren Kreis der Werkstatt kopiert hatte, weil Matteos lückenhafte Kenntnisse dieser Sprache dazu bei Weitem nicht ausgereicht hätten. Er überflog ihn rasch in der Hoffnung, zufällig ein Wort oder einen Begriff zu entdecken, der ihm mehr sagen würde. Plötzlich wurde er fündig:
Die Hauptingredienzen der Mittel zur Lebensverlängerung und zum Schutz gegen tödliche Krankheiten sind Quecksilber, Gold und Pflanzenextrakte. Aurum potabile wird es genannt, das gewaltige Remedium, das stärker ist als viele Gifte. Dazu freilich gehört auch noch der Schwefel, in minimalen Portionen, und als drittes das Salz, der Vater der Natur, denn von ihm wird erzeuget der Sulfur und der Merkur …
Matteos Hand sank herab. Ihm war schleierhaft, wo von hier genau die Rede war. Und für dieses krause Geschreibsel den Kopf riskieren? Er musste den Verstand verloren haben!
Weshalb hatte er nicht alles zusammen mit seinen besudelten Kleidern in den Ofen geworfen und verbrannt? Damit wäre ihm endlich die Last von seinen Schultern genommen, die ihn so schwer drückte. Doch er hatte es einfach nicht über sich gebracht, nicht, solange die Erinnerung an Meister Ambrogio und sein Lebenswerk noch in ihm lebendig war. Beinahe glaubte er wieder dessen heisere, zumeist alkoholgetränkte Stimme zu hören.
»Aus allem eines und aus einem alles, verstehst du, mein Junge? Und wenn du das erst einmal begriffen hast, dann ist kein Geheimnis mehr vor dir sicher. Drei Dinge sind es, aus denen alle Stoffe dieser Erde bestehen: Quecksilber, Schwefel und Salz, die heilige Dreifaltigkeit der alchemischen Kunst, wie man sie auch nennt. Salz
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