Die Sünderin von Siena
längst auf ihrem Weg zur Küste waren. Gemma seufzte tief auf, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und machte sich auf den Weg zum Palazzo Pubblico, um Caterinas zweite Botschaft an die Brüder abzuliefern.
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Verschwitzt und durstig gelangte Gemma schließlich zu Hause an. Diesmal hatte kein Predigerauflauf ihren Weg gestört, nur ihre quälenden Gedanken, die sich nicht verjagen ließen, und diese seltsame Schwere auf der Brust, die noch stärker als am Morgen auf ihr lastete. Auch ohne eine Straßenpredigt waren die Gassen und Plätze übervoll gewesen, als brodle die Stadt innerlich, bereit, jeden Augenblick zu explodieren. Alles schien mehr und mehr aus den Fugen zu geraten, so wenigstens erschien es Gemma. Oder war es ihr aufgewühltes Inneres, das sie Siena auf einmal mit solchen Augen sehen ließ?
Teresa empfing sie vor der Tür, als habe sie bereits auf sie gewartet. »Luca und Vater sind schon die Pferde holen gegangen«, sagte sie statt einer Begrüßung. »Mario wollte nicht mit. Vielleicht hat er ja Angst, was meinst du? Neulich hat er jedenfalls mal fallen lassen, ein Pferd sei doch sehr groß. Wie er damit wohl über die Alpen gekommen ist?« Beim Gedanken daran musste sie kichern. »Ich dagegen mag Pferde, sehr gern sogar. Und Angst vor ihnen hab ich kein bisschen. Doch was nützt mir das? Deshalb nimmt Vater mich noch lange nicht mit an die Küste. Alles nur, weil ich kein Junge bin.« Ihre aufgesetzte Lustigkeit war verschwunden, jetzt schaute sie bedrückt drein.
»Jeder Mann wünscht sich einen Sohn«, sagte Gemma, »der eines Tages sein Erbe antreten kann. Das solltest du nicht persönlich nehmen, denn es liegt nun mal in der Natur der Dinge. Und jetzt lass mich vorbei, Kleine! Ich will mich noch schnell frisch machen, bevor ich mich von den beiden verabschiede.«
Teresa bewegte sich keinen Deut, sondern starrte ihre Schwester erwartungsvoll an. Jetzt erst fiel Gemma auf, wie verändert sie aussah. Die Unreinheiten, die in letzter Zeit ihr Gesicht verunziert hatten, waren abgeheilt, die glatten braunen Haare geflochten und so geschickt aufgesteckt, dass sie den Hals länger und schmaler erscheinen ließen. Auch das blassgrüne Kleid, das sie heute mit einer cremefarbenen cotta trug, war Gemma unbekannt, aber es stand Teresa ausnehmend gut. Sie war offenbar dabei, die letzten Eischalen abzustreifen und zu einem eleganten jungen Schwan zu werden. War etwa der kleine tedesco Anlass dieser erstaunlichen Wandlung?
Gemma beugte sich zu ihr und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Er kommt ja wieder!«, flüsterte sie. »Ganz gewiss sogar. Und manchmal öffnet einem die Fremde ja erst richtig die Augen für die Schönheiten daheim. Nach all dem vielen Salz wird er sehr durstig sein und nach der Klarheit deiner grünen Augen lechzen. Darauf solltest du bauen, meine große Kleine!«
Teresas strahlendes Lächeln begleitete Gemma wie ein warmer Sonnenstrahl, während sie hinauf in ihr Zimmer lief. Als Erstes setzte sie den Krug mit Zitronenlimonade an, der für sie bereit stand, und trank gierig. Dann riss sie sich das Kleid vom Leib, wusch sich mit dem Wasser, das von der Morgentoilette übrig geblieben war, und schlüpfte danach in ein leichteres Gewand, das dem heißen Tag angemessen war. Sie beschäftigte sich noch mit Bändern und Schleifen, als sie ein zaghaftes Pochen hörte.
»Nur herein mit dir!«, rief sie. »Ich bin eigens …«
Doch nicht Bartolo stand plötzlich im Raum, sondern Mario. Die sommerliche Reisekleidung ließ ihn größer und erwachsener wirken. Dazu kam, dass sein hellbraunes Haar bis auf Kinnlänge gekürzt war, was ihm das Aussehen eines hübschen Pagen verlieh.
»Ich wollte nur …«, begann er zu stottern.
»Vielleicht auf Wiedersehen sagen?«, half sie ihm weiter und dachte an Teresas beglücktes Jungmädchenlächeln. Vielleicht gar keine schlechte Idee, dass die beiden eines Tages ein Paar werden könnten. »Wie aufmerksam von dir! Wir können gemeinsam hinuntergehen, damit du keinen im Haus vergisst, was meinst du, Junge?«
»Einen Augenblick!« Mario war zögernd näher gekommen. Sein Blick verweilte auf ihrem Mieder, und unwillkürlich zog Gemma die Schultern ein. In ihren Augen war er bislang stets noch ein halbes Kind gewesen. Aber vielleicht hatte sie auch einfach nicht genau genug hingesehen. »Es gibt da etwas, was ich mit dir besprechen muss.« Er schien nach Worten zu suchen wie während seiner Anfangszeit in Siena. »Kennst du eine Frau namens
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