Die Sünderin von Siena
anders. Bartolo hatte gleichsam hohe, glatte Wände um sich errichtet, an denen alle abrutschten. Jeder ihrer Versuche, den Vater über sein seltsames Verhalten in Lupos Haus zu befragen, war bislang gescheitert. Entweder tat Bartolo, als verstehe er nicht, worauf sie hinauswollte, oder er gab unaufschiebbare Geschäfte vor, die ihn nötigten, auf der Stelle das Kontor aufzusuchen. Es schien ihn nicht einmal zu interessieren, wie sie ohne seine Hilfe entkommen war, jedenfalls hatte er seine Tochter bislang kein einziges Mal danach gefragt.
»Wir müssen Geduld haben«, sagte Gemma mehr zu sich als zu Mario, »wir beide, fürchte ich. Er brütet etwas aus, das kenne ich schon von früher, und irgendwann wird er schon darüber reden, das liegt ebenfalls in seiner Natur. Aber du solltest damit aufhören, dich mit anderen Jungen herumzuraufen, bis sogar Blut fließt! Hältst du das etwa für eine gute Idee, um Freunde zu finden?«
Erst Kopfschütteln, dann begannen Marios Mundwinkel verräterisch zu zucken.
»Du vermisst deine Familie, habe ich recht?«, fuhr Gemma fort. Hatte sie nicht schon einmal etwas ganz Ähnliches zu ihm gesagt? »Deinen Vater, deine Schwester, vielleicht sogar deine Stiefmutter – du vermisst sie alle. Wir hier sind nur ein ungenügender Ersatz für das, was du zurücklassen musstest. Ich kann dich gut verstehen, Mario, besser vielleicht, als du ahnst. Ich weiß, wie es ist, wenn man sich einsam und von allen verlassen fühlt, die man liebt.«
Marios goldene Augen waren auf sie gerichtet, als hinge von dem, was sie sagte, sein Leben ab. Wie lange Wimpern er doch hat, dachte Gemma unwillkürlich, und wie fein und zart seine Haut ist, noch ganz ohne Andeutung des ersten männlichen Flaums!
»Es ist nicht so, wie du denkst«, flüsterte der Junge. »Ganz im Gegenteil! Du musst wissen, dass ich …«
»Gemma!«, ertönte Lavinias schrilles Rufen von unten. »Komm sofort runter! Da ist eine gewisse Monna di Nero, die dich sprechen möchte.«
Marios zutiefst verstörtes Gesicht ließ Gemma nicht los, auch nicht, als sie kurz danach an der Seite von Bice di Nero schnellen Schritts den Weg hinunter nach Fontebranda ging. Die Frau an ihrer Seite redete ohne Unterlass, und aus jedem ihrer Worte sprach die Sorge um ihren Sohn. Gemma begnügte sich mit zustimmendem Nicken und ein paar knappen Kommentaren.
»Das alles solltest du Caterina erzählen«, sagte sie, als Bice einmal Atem holen musste. »Sie hegt ohnehin größte Vorbehalte gegen diesen Prediger, und jedes deiner Worte wird ihr gelegen kommen.«
Doch als sie schließlich das Färberhaus erreicht hatten und Lapa ihnen schon beim Eintreten besorgt mitteilte, wie schwach Caterina sei, die seit Tagen keinerlei feste Nahrung mehr zu sich genommen habe, schien die Frau des Richters der Mut zu verlassen.
»Ich sollte besser wieder gehen.« Unruhig begann Bice auf der Stelle hin und her zu trippeln. »Wer bin ich schon, eine heilige Frau wie Caterina mit meinen dummen Sorgen behelligen zu wollen?«
»Es geht nicht nur um deinen Giovanni«, sagte Gemma. »Er hat Dutzende von solchen Jungen bei sich, die eigentlich nach Hause gehören, anstatt weiteres Unheil anzurichten. Kneif jetzt nicht davor, Bice, sondern sag Caterina, was du zu sagen hast!«
Lapa, die in die Zelle gegangen war, um ihrer Tochter die Besucherinnen anzukündigen, ließ sie lange warten. Als sie schließlich zurückkam, sah es aus, als habe sie heftig geweint.
»Sie schont sich nicht«, flüsterte sie. »Egal, wie sehr ich sie auch darum bitte. Wie eine Kerze, die an zwei Enden gleichzeitig brennt, verzehrt sie sich ohne Unterlass. Ich fürchte, wir werden dieses helle Licht nicht mehr lange bei uns haben, wenn sie sich weiterhin so verausgabt.«
»Sollen wir lieber ein anderes Mal wiederkommen?«, fragte Gemma.
»Untersteh dich!« Caterinas Stimme, die aus der Zelle drang, war überraschend kräftig. »Du solltest nicht auf meine Mutter hören – du weißt doch, wie Mütter manchmal sind!«
Gemma trat als Erste ein, gefolgt von Bice. Caterina kniete mit nackten Knien auf dem Steinboden. Zwar ließ sie den rauen Rock schnell darübergleiten, aber Gemma hatte doch gesehen, dass beide Knie offen waren, bedeckt mit schwärenden Wunden.
»Die Last des Fleisches«, sagte Caterina wegwerfend, »wenn sie mich doch endlich nicht länger heimsuchte! Geist möchte ich sein, Feuer, ganz und gar Liebe. Ich werfe mich flach auf die Erde, sobald die Versuchungen kommen, und verharre
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