Die Sünderin von Siena
hatte sich behutsam aus ihrer Umarmung gelöst. »Dann sollte ich besser keine Zeit verlieren«, sagte er, beugte sich über Celestina und küsste sie auf den Mund. Sie hielt ganz still in seinen Armen, ließ es zunächst nur geschehen, ohne seinen Kuss zu erwidern. Dann erst spürte er ihre Zunge – und ihre abgrundtiefe Einsamkeit, und er begann sich zu schämen wie noch nie zuvor in seinem Leben.
»Davon hab ich immer geträumt.« Er glaubte, ihren Gesichtsausdruck vor sich zu sehen, obwohl es dunkel war. »Seit ich denken kann. Mich einmal wie eine schöne, begehrte Frau zu fühlen!« Er spürte die zärtliche Berührung ihrer Hand an seiner Wange und von Neuem ergriff ihn die Scham, so gerührt und gleichzeitig fröhlich klang sie. »Lass mich nicht zu lange warten, Liebster, bis ich dich wieder spüren darf!«
»Die kleine Tote wartet auch, Celestina«, erwiderte er leise, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Ich finde, ihr sollten wir zunächst den Vortritt lassen.«
❦
Im Schein der Wachsstöcke sah sie sehr klein aus, wie sie da auf der hölzernen Bahre lag in ihrem schlichten weißen Hemdchen, sehr klein und sehr verloren. Das Lächeln war aus dem breiten Gesicht mit der leicht aufgeworfenen Nase verschwunden, und tiefer Ernst hatte sich über dieses einst so fröhliche Kindergesicht gelegt.
Mamma Lina beugte sich über Cata und streichelte sie.
»Von dir kann ich mich wenigstens verabschieden, kleiner Liebling«, flüsterte sie. »Was hat man dir nur angetan? Wo du doch nichts als Liebe warst dein ganzes kurzes Leben lang, nichts als reinste, hellste Liebe!«
»Wird es gehen?«, fragte Matteo leise. »Ich meine, wirst du auch aushalten können, was ich dir zumuten muss? Du kannst dich noch immer anders entscheiden. Jetzt ist es noch nicht zu spät.«
»Ich hab schon andere Dinge in meinem Leben ausgehalten«, lautete ihre Antwort. »Schlimmere, wenn du so willst. Und jetzt lass uns gemeinsam nach der Wahrheit suchen!«
Zusammen streiften sie ihr das Hemdchen ab.
»Vergib uns, kleine Cata!«, sagte Matteo. »Wir untersuchen dich im Namen deines Brüderchens Mauro und der unschuldigen Gemma, die dich sehr lieb hatte. Nur wenn wir herausfinden, was dir so wehgetan hat, können wir vielleicht verhindern, dass so etwas wieder passiert!«
»Vergib uns Sündern, barmherzige Muttergottes«, flüsterte Lina, »jetzt und in der Stunde unseres Todes – Amen.«
»Siehst du die dunklen Totenflecken auf ihrem Rücken?«, fragte Matteo nach eingehender Betrachtung. »Wenn du darauf drückst, verschwinden sie zwar kurz, aber sie treten schneller wieder auf, als es in meiner Erinnerung bei Mauro der Fall gewesen ist. Wahrscheinlich, weil Cata schon etwas länger hier liegt als er damals. Oder kommt es daher, dass der Sommer fortgeschritten und es draußen inzwischen noch wärmer geworden ist? Lauter Fragen, auf die ich keine schlüssige Antwort weiß.«
Vorsichtig begann er an der Haut von Catas linkem Arm zu zupfen, die auch nach der Berührung leicht erhöht stehen blieb.
»Siehst du das? Beinahe, als wäre sie gestärkt. Das hab ich bei Mauro auch festgestellt. Allerdings hatte der auch einen ordentlichen Bluterguss am Arm, was ich bei Cata nirgendwo entdecken kann.«
»Das wundert mich gar nicht!«, sagte Lina. »Mauro hat sich, so wie ich ihn kenne, sicherlich gewehrt, wenn ihm etwas nicht gepasst hat und jemand ihn festhalten wollte. Cata dagegen hat immer alles mit sich anstellen lassen, weil sie sich gar nicht vorzustellen vermochte, jemand könne hässlich oder gemein sein. Vielleicht hat genau das es ihrem Mörder leicht gemacht. Denn an einen natürlichen Tod der beiden glaube ich schon lange nicht mehr.«
»Ebenso wenig ich«, sagte Matteo. »Genau deshalb sind wir ja jetzt beide hier.«
Seine Instrumente lagen säuberlich aufgereiht am Rand der Bahre. Ihm entging nicht, wie schwer Mamma Lina schlucken musste, als sie das scharfe Messer und die vorbereiteten Holzspatel erblickte.
»Ich schneide längs auf«, sagte er. »Das wird am schnellsten gehen. Du brauchst keine Angst zu haben«, setzte er unwillkürlich hinzu. »Sie kann es ja nicht mehr spüren.«
Flüchtiges Nicken. Die Frau neben ihm schien plötzlich kleiner geworden zu sein, so sehr hatte sie die Schultern eingezogen.
Matteo setzte das Messer an. Dieses Mal musste er nicht gegen das Brustbein als feste Sperre kämpfen, wie damals bei Mauro, sondern es gelang ihm, beiderseits die Ansätze der Rippen zu durchtrennen, was das
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