Die Sünderin von Siena
Blässe seines Gesichts.
»Padre, ich wollte doch nur …«
»Schweig!« Er riss ihm die Tasche aus der Hand und streckte sie Matteo entgegen. »Er scheint da etwas verwechselt zu haben«, sagte er, »jung und unerfahren, wie er ist. Doch das Himmelreich ist nun einmal nicht für die Reichen gemacht. Selig sind die Armen, die Gottes Wort rein und demütig aufnehmen!«
Bei den letzten Worten hatte seine Stimme sich verändert. Man konnte deutlich hören, dass er daran gewohnt war, vor großem Publikum zu sprechen – und dass er genau danach strebte. Auch seine Haltung war kaum wiederzuerkennen, der sehnige Körper gestrafft, der Rücken kerzengerade.
»P adre Bernardo!« Eine Frau hatte sich aus dem Kreis der Umstehenden gelöst und sank ihm zu Füßen. Sie packte seine schmutzige Kutte und begann sie mit Küssen zu bedecken. »Eine Ewigkeit habt Ihr uns dürsten lassen!«
Raunen und Tuscheln erhoben sich, der Prediger jedoch schien unbeeindruckt.
»Steh auf, meine Tochter!«, sagte er. »Erheb dich! Ich sehe einen glühenden Feuersee, der alles Böse schmelzen wird, doch die Zeit dafür ist noch nicht reif. Euer Ruf hat mich in der Ferne erreicht, und ich bin ihm gefolgt, da ich weiß, wie inbrünstig ihr Erlösung ersehnt. Und ich sage euch, Geschöpfe des Allmächtigen: Dieses Mal werde ich nicht weichen, solange Satan noch in euren Herzen wohnt.«
Eine gebieterische Geste, dann setzte sich der Trupp Kinder und Halbwüchsiger, der ein Stück abseits auf den Ausgang der Begegnung gewartet hatte, zusammen mit ihm in Bewegung.
»Aber wohin geht Ihr, padre?«, rief die Frau. »Wo finde ich Euch? Verlasst uns nicht, ich flehe Euch an!«
»Dorthin, wo die Finsternis am tiefsten ist, denn ich bin der Bote des Lichts. Kommt, meine Engel, folgt mir! Wir haben viel zu tun.«
Matteo starrte dem seltsamen Zug nach. Vor vielen Jahren war ihm in Lucca Ähnliches begegnet; damals waren es aufgebrachte Bauern gewesen, die der Hunger scharenweise von ihren Äckern vertrieben hatte und die sich einem ehemaligen Mönch angeschlossen hatten. Von Tag zu Tag war die Meute angewachsen, hatte den Rat der Stadt in arge Bedrängnis gebracht, Essen gefordert, Kirchen besetzt, schließlich sogar damit begonnen, die Häuser der Reichen zu stürmen. Ein blutiger Bürgerkrieg schien unausweichlich. Dann jedoch hatte sich wie durch ein Wunder plötzlich die allgemeine Stimmung gegen den Eiferer gewendet, und er war nur knapp mit dem Leben davongekommen.
»Ihr wart sehr schnell«, sagte Gemma, die auf einmal neben Matteo stand. »Und mutig dazu. Meinetwegen habt Ihr schlimme Prügel bezogen. Das tut mir leid.«
Aus der Nähe war sie noch anziehender als in seinen
Träumen, die Haut wie bräunlicher Samt, der glatt über Stirn und Wangen lag, die vollen Lippen leicht geöffnet. Auf der Nase entdeckte er winzige Sommersprossen, die für ihn aussahen, als hätte man dunklen Zimt durch ein feines Sieb gestäubt. Sie lächelte, doch dahinter war Traurigkeit zu spüren, obwohl sie sich alle Mühe gab, es zu verbergen. Matteo sah, wie ihr Busen sich unter all dem Blau und Rot rasch hob und senkte, und hätte sie am liebsten wortlos und bis zum Ende aller Zeiten in die Arme genommen.
»Ich bin in Eurer Schuld«, fuhr sie fort. »Gibt es etwas, das ich für Euch tun kann? Dann sagt es mir – bitte!«
Sie streckte die Hand aus, und er war so befangen, dass er nur langsam begriff.
»Eure Tasche!«, sagte er. »Verzeiht, ich benehme mich gerade wie ein ausgemachter Idiot!«
Ihr Lächeln vertiefte sich, als sie die Tasche entgegennahm, und dieses Lächeln machte die braunen Augen noch wärmer. Jetzt stand das Glück direkt vor ihm – und er bekam den Mund nicht auf.
»Meister!« Nevio kam atemlos angerannt. »Sie haben gesagt, man hat dich angriffen, und da bin ich natürlich sofort los. Eigentlich wollte ich ja schon viel früher kommen, aber Mutter ließ mich einfach nicht gehen …«
»Mein Lehrling«, sagte Matteo in Gemmas fragenden Blick hinein. »Er heißt Nevio Panizzi und wird im Sommer fünfzehn.«
»Dann seid Ihr …«
»… ein Maler namens Matteo Minucci und stets auf der Suche nach neuen Gesichtern. Wollt Ihr mir Modell sitzen, Monna …«
»Gemma«, sagte sie, spürte, wie heiß ihr bei seinen Blicken wurde, und ärgerte sich im gleichen Atemzug über ihr Erröten. »Gemma Santini.«
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Der Junge hing an Bartolos Lippen und schien alles, was aus dessen Mund kam, wie Honig in sich aufzusaugen. Wie blass er war –
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