Die Sünderin von Siena
aufbrechen!«
❦
Den leeren Weidenkorb hatte sie der Magd regelrecht aus der Hand gerissen. »Gib her! Das ist heute meine Sache«, sagte Bice di Nero. »Ich werd noch verrückt, wenn ich nicht endlich wieder unter Menschen komme!«
Sie musste die Zähne zusammenbeißen, kaum war sie ein paar Schritte gegangen, denn noch immer waren die Krämpfe im Unterbauch, die sie tagelang nur auf der rechten Seite hatten liegen lassen, nicht ganz verschwunden. Jedes Wasserlassen wurde zur Qual. Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie zu lange in grelles Licht geschaut. Wenigstens waren die beängstigenden Schwindelanfälle vorbei, seit sie regelmäßig Savo Marconis neue Pillen schluckte, auch wenn sie so bitter schmeckten, dass sie sie kaum hinunterwürgen konnte.
Die laue Frühsommerluft umfing Bice wie ein Schmeicheln, und der leichte Wind, der sich erhoben hatte, fuhr durch ihr zu weit gewordenes Kleid. Doch das prächtige Scharlach und Blau waren vergebens. Niemand musste ihr sagen, dass sie wie eine Leiche aussah, das Haar dünn und glanzlos, die Haut grau und schlaff. Solange sie aus dem Haus war, musste sie wenigstens nicht Eneas missbilligende Blicke ertragen. Er hatte sie niemals ge liebt, das wusste Bice, sondern damals nur gefreit, um der Konvention zu genügen, zu der ein Eheweib und Kinder gehörten.
Von der ersehnten Nachkommenschar hatte sie sich innerlich längst verabschiedet. Ihnen beiden war einzig und allein Giovanni vergönnt gewesen, ihr kleiner, geliebter Giovanni, von dem sie nach endlosen Tagen und Nächten des Bangens und Hoffens eines Morgens lediglich einen schmuddeligen Pergamentfetzen auf der Schwelle vorgefunden hatte.
Hab mein Glück gefunden , stand da in seiner ungelenken Jungenschrift. Sucht mich nicht länger! Meine Seele ist endlich bei Gott.
Ihr Herz schlug schneller, als sie sich dem Markt vor San Francesco näherte, wo die Bauern der Umgebung stets die frischesten Waren anboten. Auch heute bogen sich die Stände unter Lauch, Zwiebeln, Artischocken, Spinat und Rauke. Hühner und Enten gackerten und schnatterten aus ihren Käfigen, an einem Spieß drehte sich ein mit Kräutern gefülltes Ferkel, von dem schon ein beachtliches Stück fehlte. Früher waren Giovanni und sie manchmal gemeinsam hier gewesen. Früher, als in ihrem Leben alles noch so gewesen war, wie es sein sollte.
Unentschlossen wanderte Bice zwischen den Ständen umher, als ihr plötzlich ein magerer Junge in einer grauweißen Kutte auffiel, der die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte und viel zu dicht hinter zwei schwatzenden Frauen stand. Die beiden waren hingebungsvoll in ein Gespräch vertieft, was der Junge zu nutzen wusste. Er hatte ein Messer herausgezogen und schnitt in aller Seelenruhe zuerst die Tasche der einen, dann die der anderen ab. Er ließ die Beutel in seiner Kutte verschwinden, bevor er sich langsam und gemessen entfernte, als sei nichts geschehen.
»Halt!«, schrie Bice. »Ein Dieb – Signore , passt auf! Ihr seid von diesem kleinen Bastard in der Kutte gerade bestohlen worden.«
Die Frauen schraken auf, während der Junge plötzlich zu rennen begann. Er war nicht allein. Wie von Zauberhand erschienen auf einmal vier weitere Kuttenträger, die gleichsam auf Kommando in verschiedene Richtungen davonliefen. Ein paar der Marktleute verfolgten sie, doch gegen die jungen, geübten Beine hatten sie keine Chance.
Einem drahtigen Bauern aber gelang es schließlich doch, einen der Flüchtigen zu fassen. Er packte ihn am Genick wie eine Katzenmutter ihr Junges und zerrte ihn triumphierend zu seinem Stand zurück. Als der Gefangene sich wand und mit Händen und Füßen zu befreien versuchte, rutschte die Kapuze nach hinten – und Bice erkannte ihren Sohn.
»Giovanni!« Ihre Stimme zitterte. »Bist du jetzt unter Räubern und Dieben gelandet?«
Finster starrte er sie an. Offenbar hielt er jedes Wort für pure Verschwendung.
»So rede!« Sie schüttelte ihn. »Was machst du nur? Weißt du eigentlich, was du uns angetan hast?«
»Wer ist dieses Weib?«, sagte der Junge schließlich gedehnt. »Sie soll sofort ihre Finger von mir nehmen!«
»Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?«, schrie Bice. »Ich bin es. Deine Mutter! Und du kommst jetzt sofort mit mir nach Hause!«
Inzwischen näherten sich zwei der geflohenen Kuttenträger wieder vorsichtig. Der mit den gestohlenen Taschen allerdings hatte sich offenbar in Sicherheit gebracht.
»Welches Zuhause? Ich hab kein Zuhause mehr. Das hier
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