Die Sünderin von Siena
– dein Gesicht, deine Stirn, deine Augen. Er hat uns deine Züge verliehen, obwohl du diese Ehre nicht wert bist.
Mamma Lina hatte es als selbstverständlich angesehen, dass Gemma die Kinder und sie zur Messe begleitete, die anlässlich der Enthüllung des Freskos in der Kapelle von Santa Maria della Scala abgehalten wurde. Um der Sache mit Matteo nicht noch mehr Gewicht zu geben, als sie ohnehin schon besaß, hatte Gemma eingewilligt. Jetzt freilich bereute sie diese Entscheidung und hielt den Kopf die meiste Zeit über gesenkt, in der Hoffung, ihre innere Qual würde keinem der Anwesenden auffallen.
Waisenmütter und ihre Zöglinge füllten die Bänke, dazu viele Mantellatinnen und die Bediensteten des Hospitals, von denen keiner sich das feierliche Hochamt entgegen lassen wollte. Der Bischof, dessen Gallenkoliken stadtbekannt waren, schien in ausnehmend guter Verfassung. Seine Stimme war kräftig, er konnte ausgezeichnet singen und strahlte in seinem weißen, goldbestickten Messgewand Ruhe und geistliche Würde aus. Was für ein Unterschied zu dem schwarzen Prediger, der auf den Gassen und Plätzen der Stadt geiferte!
Plötzlich war Gemma dankbar für die mächtigen Quader der alten Kapelle, die sie und die anderen Gläubigen schützend umfingen.
Matteo habe ich bereits vergeben, dachte sie, jetzt muss ich nur noch mir selber vergeben. Der Gedanke an ihn machte sie augenblicklich unruhig. Natürlich wusste sie genau, wo er stand: neben einer der großen Säulen, als sei er ein ebenso bescheidener Besucher des Gottesdienstes wie alle anderen auch. Doch der Maler war aufgeregt; sie erkannte es daran, dass er von einem Fuß auf den anderen trat und seine Hände ständig etwas an der Kleidung zu nesteln hatten. Er trug Schecke und Beinlinge in Nachtblau, hatte sich das Silberhaar kürzen lassen und war frisch rasiert. Von den Verletzungen, die ihm Lupos Spießgesellen zugefügt hatten, war zumindest äußerlich nichts mehr zu sehen. Ein anziehender Mann, der die Blicke einiger Frauen auf sich zog, wie Gemma zum ersten Mal bemerkte. Ein Gedanke, der ihr gefiel, ihre Unruhe aber weiter wachsen ließ.
Rechts von ihm sein Gehilfe in sauberen, etwas zu kur zen Kleidern. Links hatte sich Celestina platziert, prunkvoll herausgeputzt in gelbem und rotem Damast, auf dem Kopf eine jener bunten Hörnerkappen, die jetzt immer mehr in Mode kamen. Während Celestina für Gemma nur ein frostiges Nicken übriggehabt hatte, betrachtete sie Matteo so liebevoll, als könne sie gar nicht genug von dem Anblick bekommen. Irgendwann berührte sie ihn sogar am Arm, scheinbar selbstverständlich und so besitzergreifend, wie es eigentlich nur einer Ehefrau zugestanden hätte.
Es war nur ein kurzer Moment der Eifersucht, der Gemma durchzuckte, doch Lelio neben ihr schien sofort zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Er griff nach ihrer Hand, drückte sie fest.
»Freu mich schon auf die neuen Buchstaben«, flüsterte er. »Was kommt eigentlich nach dem D?«
»Das E«, gab Gemma ebenso leise zurück.
»Wann ist endlich L an der Reihe? L wie Lelio?«
»Bald. Sehr bald.«
»Und dann kann ich schon richtig schreiben?« Seine riesigen Segelohren glühten, so aufgeregt war er.
»Beinahe.« Wieder einmal hatte er sie zum Lächeln gebracht.
Als der Junge weitertuscheln wollte, legte sie ihm einen Finger auf die Lippen, denn die Predigt des Bischofs hatte begonnen.
In schlichten Worten erzählte er die Geschichte von Anna und Joachim: ihr schier endloses Sehnen nach einem Kind, den Hohn, den eine schadenfreudige Rabbinerschaft über den Mann ausgoss, der keinerlei Nachkommen vorzuweisen hatte, schließlich die Botschaft des Engels und endlich jener köstliche Moment der Begeg nung an der Goldenen Pforte, wo beide begriffen, dass ihre Gebete erhört worden waren.
»Sie werden die Eltern der Gottesmutter, jener himmlischen Jungfrau, der die Schlüssel unserer geliebten Stadt gehören. Unter ihrer Obhut stehen auch die Kinder von Santa Maria della Scala, egal, ob sie hier im Hospital leben oder bei ihren Waisenmüttern in anderen Häusern. Messer Minucci, der Maler dieses Freskos, hat den wunderbaren Moment der Erlösung eingefangen, der uns alle tröstet und erhebt. In Namen des gesamten Domkapitels danke ich ihm dafür.«
Matteo schien zu wachsen und Nevio neben ihm vor Stolz fast zu platzen. Wie gerne wäre Gemma nach vorn gelaufen, um jetzt bei ihm zu sein, aber natürlich blieb sie, wo sie war.
Kaum wurde die Kommunion ausgeteilt,
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