Die Sünderin von Siena
sind jetzt meine Mutter und meine Brüder!«, stieß Giovanni hervor, mit wildem, blassem Gesicht. »Diese beiden – und all die anderen Engel. Nur wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.«
»Er gehört zu dem Prediger«, sagte eine Frau zu Bice. »Weißt du das nicht? Die mit den hellen Kutten sind alle padre Bernardos Engel.«
»Und der stiftet sie zum Stehlen und Rauben an?« Bice rang nach Worten. »Soll vielleicht so das Reich Gottes auf Erden aussehen, das er uns verheißen will?«
»Vergiss es!«, sagte der größere der beiden Kuttenträger kopfschüttelnd zu Giovanni. »Sie wird es ohnehin niemals kapieren. Vermutlich kennt sie nicht einmal die Geschichte vom Reichen, dem Kamel und dem Nadelöhr.« Arrogant verzog er sein gut geschnittenes Gesicht. Er hatte blaue Augen, volle Lippen und zerzaustes dunkelblondes Haar. »Wir sind die Armee Gottes. Und niemand von diesen Idioten wird uns aufhalten. Siehst du, kleiner Bruder? Wir sind viel stärker als sie alle zusammen.«
Er versetzte dem Bauern einen kräftigen Stoß gegen die Brust, der ihn taumeln ließ. Plötzlich schaute der Mann ängstlich drein.
»Das reicht als Warnung, oder willst du mehr? Kannst du sofort haben, ein Wort genügt. Und jetzt lass unseren Bruder endlich in Frieden! Er hat nichts getan, gar nichts – verstehst du?«
Keiner rührte sich, so überrascht waren alle. Der Junge benutzte die Gelegenheit, um Giovanni wegzuziehen, während Bice ihnen fassungslos hinterherstarrte.
»Los!«, rief der Junge. »Mach schon! Sie werden nicht ewig so dastehen.«
Die beiden rannten los, in die nächste Gasse, dann rechts, links, wieder rechts, bis sie endlich schnaufend unter einem Torbogen innehielten. Giovanni hielt sich die Hand vor das Gesicht, doch dem unbarmherzigen Blick des anderen entging nichts.
»Es hört auf mit der Zeit«, sagte er. »Glaub mir, ich weiß das aus Erfahrung. Irgendwann spürst du nichts mehr. Und noch eine kleine Weile später kannst du dich nicht mal mehr daran erinnern, dass es sie jemals gegeben hat. Erst dann bist du richtig frei – frei und glücklich.«
»Aber sie hat so unglücklich ausgesehen, Michele, so elend!«
»Vergiss es!« Michele zögerte, dann legte er seinen Arm um Giovannis Schultern und zog ihn eng an sich. Er roch nach Schweiß, nach Sommer, nach den jungen rohen Zwiebeln, die er zuvor gierig verschlungen hatte. »Sie ist nichts als ein dunkler Traum, etwas, das längst vorüber ist. Dein Leben ist jetzt hier. Bei uns. Bei mir.«
Giovanni erschauderte, als ihre Schenkel sich berührten.
Sie war so tröstlich, diese Nähe, so warm – so ungeheuer aufregend. Er bekam am ganzen Körper Gänsehaut. In seine Lenden schoss Blut. Sein Glied richtete sich auf, so wie er es bisher nur aus hitzigen Träumen kannte oder wenn er sich heimlich selbst berührte. Er schämte sich und war gleichzeitig so glücklich wie niemals zuvor. Am liebsten hätte er sich sinken lassen und sich in diesen starken Armen ganz verloren.
»Du bist jetzt einer von uns, kleiner Engel«, sagte Michele. »Und ich werde persönlich darauf aufpassen, dass du niemals in Versuchung gerätst, das zu vergessen.«
❦
Der Rektor hielt inne, als er den Mann auf den Altarstufen knien sah, scheinbar tief im Gebet versunken. Sollte er sich dezent zurückziehen?
Doch der andere hatte ihn bereits gehört, erhob sich rasch und drehte sich zu ihm um.
»Danke, dass Ihr mir Eure kostbare Zeit schenkt, Messer Barna.« Lupo di Ceccos Miene war undurchdringlich. »Ich weiß, welch schwierige Aufgaben auf Euren Schultern lasten.«
Er bückte sich, hob den Beutel auf, der neben ihm gelegen hatte, und reichte ihn Barna.
»Meine versprochene Spende«, sagte er. »Gott und die heiligste Jungfrau sind keine Gläubiger, die man warten lassen darf.«
Mit tiefer Befriedung spürte der Rektor, wie schwer der Beutel in seiner Hand wog. Alles Goldstücke, wenn di Cecco Wort gehalten hatte. Bald würde er Gewissheit haben. Schon jetzt konnte er es kaum noch erwarten, sie nacheinander durch seine Finger gleiten zu lassen.
»Dann ist Euer gefährliches spanisches Unternehmen also glücklich ausgegangen«, sagte er, »und man darf Euch von ganzem Herzen gratulieren?«
Lupos Miene verschloss sich noch mehr. »Leider scheinen dieses Mal die Heiligen unsere inbrünstigen Gebete nicht erhört zu haben«, sagte er. »Das Schiff, das unsere Waren an Bord führte, wurde von Piraten gekapert und in Brand gesteckt.
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