Die Sünderin
nicht einmal zwanzig. Sie können noch einmal neu beginnen. Sie müssen nur den Willen haben und sich von diesem Gift fern halten. Ihr Körper braucht es nicht mehr, jetzt müssen Sie nur noch Ihre Seele überzeugen. Es lebt sich ohne Heroin besser, glauben Sie mir. Vor allem lebt es sich billiger. Dann reicht auch ein achtbarer Beruf für den Lebensunterhalt.»
«Wo bin ich denn überhaupt?», fragte sie.
«Gut aufgehoben», sagte er und lächelte. «Verzeihen Sie mir, wenn ich jetzt an mich denke.»
Natürlich verzieh sie ihm. Einem so gütigen, verständnisvollen und liebenswürdigen Menschen musste man verzeihen, wenn er einmal an sich dachte und das Risiko scheute, im Nachhinein noch für seine Hilfe mit Führerscheinentzug bestraft zu werden. Beinahe ein Heiliger war er gewesen. Nur diesem Mann hatte sie es zu verdanken, dass sie den Weg in ein normales Leben geschafft hatte.
Und sie hatte ihn zur Bestie gemacht. Weil sie nicht eingestehen konnte, was sie gewesen war: ein Stück Dreck, das sich tiefer und tiefer in die Gosse trieb und zum Schluss jeden an sich heran und alles mit sich machen ließ.
Und der Chef ließ nicht locker, bohrte und stocherte in den alten Wunden, bis sie aufbrachen, eine nach der anderen. Wenn er mit Vater sprach … Das war das Letzte, was er gesagt hatte, bevor er sie verließ. Dass er am nächsten Morgen nach Buchholz fahren müsse. «Es tut mir sehr Leid, Frau Bender. Ich kann Ihren Vater nicht in Ruhe lassen. Aber ich werde ihnnicht unnötig aufregen, das verspreche ich Ihnen. Ich will ihn nur fragen …»
Vater wusste von den perversen Freiern. Vater wusste auch von anderen Perversitäten.
Die letzte Sünde! Es spielte keine Rolle mehr, ob der Erlöser verzieh oder ob sie in der Hölle schmoren musste, wie Mutter es oft so plastisch geschildert hatte. Bis in alle Ewigkeit werden Hunderte von kleinen Teufeln dir das Fleisch mit rotglühenden Zangen vom Leib reißen. Sie hatten doch längst damit angefangen, die kleinen Teufel. Und der Chef führte sie an, zeigte ihnen die Stellen, wo sie ihre Zangen am besten ansetzten.
Nach dem Abendessen ließ sie noch ein paar Stunden verstreichen, bis sie sicher sein durfte, dass die Aufmerksamkeit nachgelassen hatte. Nachts kamen sie nicht mehr so häufig, um nach ihr zu sehen. Kurz nach zwölf nahm sie das Päckchen mit den Papiertüchern, zupfte von einem Tuch kleine Fetzen ab, drehte sie zu Kugeln und verstopfte sich die Nase damit.
Vorerst konnte sie noch durch den Mund atmen. Sie drehte die restlichen drei Tücher zu einem Klumpen und stellte sich ans Fußende des Bettes mit dem Gesicht zur Wand. Dann atmete sie kräftig aus, stieß sich den Klumpen in den Hals – so tief hinein, wie es nur ging. Und noch bevor sie die Hand wieder nach unten gebracht hatte, warf sie den Kopf mit Schwung nach vorne gegen die Mauer.
Rudolf Grovian brach früh um sechs am Mittwochmorgen auf. Mechthild schlief noch, als er das Haus verließ. Er rechnete mit einer Fahrzeit von fünf Stunden. Eine schlechte Schätzung, die etliche Baustellen auf der A1 außer Acht gelassen hatte. Der erste Stau kurz hinter dem Kamener Kreuz kostete ihn eine halbe Stunde, der zweite vor der Raststätte Dammer Berge fast eine volle. Erst gegen halb eins war er am Ziel.
Buchholz in der Nordheide. Eine blitzsaubere Stadt, viel Grün, im Zentrum gab es kaum ein Gebäude, das älter als zehn oder fünfzehn Jahre war. Cora Benders Kindheit in dieser Umgebung – es war wie die Faust aufs Auge. Und er sah bei diesem Vergleich ihr zerschlagenes Gesicht vor sich.
Eine Weile fuhr er kreuz und quer durch die Stadt, schaute sich um und machte sich auf einem Stadtplan kundig, ehe er den Wagen vor ihrem Elternhaus hielt. Ein nettes Häuschen, gebaut vermutlich Anfang der sechziger Jahre. Sauber und adrett wie die Nachbarschaft, gepflegtes Vorgärtchen, die Fenster blank geputzt, dahinter reinweiße Gardinen. Ihm war danach, den Kopf zu schütteln.
Die genaue Anschrift hatte er am Dienstagabend von Gereon Bender erfahren. Er hatte sich bei Margret Rosch danach erkundigen und ihr bei der Gelegenheit noch ein paar Fragen stellen wollen. Doch Cora Benders Tante war überraschenderweise abgetaucht. So hatte er mit dem Ehemann vorlieb nehmen müssen und die Auskunft erhalten, dass Gereon Bender seine Schwiegereltern nie zu Gesicht bekommen hatte.
«Die wollten schon vor Jahren nichts mehr mit ihr zu tun haben. Da hätte ich besser mal drüber nachgedacht. Es muss ja
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