Die Sünderin
bisher nur Gutes gehört. Ein stiller Mann, zurückhaltend, fast scheu Frauen gegenüber.
Und Gereon Bender sagte: «Sie lügt, wie es ihr gerade in den Kram passt.» Natürlich log sie, wenn sie sich nicht anders zu helfen wusste. Wenn einer gegen ihre Mauer trat, warf sie in ihrer Not alles, was ihr durch den Kopf ging, in einen Topf, rührte einmal kräftig um und knallte eine Schöpfkelle Chaos auf den nächsten Teller. Und dann musste man sortieren, was sie anbot, und bei jedem Bröckchen fragen, wo sie es hergenommen hatte.
Inzwischen stand fest, dass sie einen Großteil dessen, was sie an Fakten aus Frankenbergs Vorleben präsentiert hatte, am See aufgeschnappt haben konnte. Einen Großteil, nicht alles. Die Spitznamen Böcki und Tiger hatte Winfried Meilhofer nicht genannt, weil er sie nie zuvor gehört hatte. Zu ihm hatte Georg Frankenberg immer nur von Hans Böckel und Ottmar Denner gesprochen. Und Meilhofer hatte auch den silberfarbenen Golf GTI mit Bonner Kennzeichen nicht erwähnt.
Der Wagen und die beiden Namen waren alles, was Rudolf Grovian noch in der Hand hatte, um eine Linie zwischen Opfer und Täterin zu ziehen. Dabei konnten die Namen durchaus der Phantasie Cora Benders entsprungen sein. Dass es ihm logisch erschien, Hans Böckel gleich Böcki und der «Song of Tiger», bewies nichts.
Aber wenn man zu Gedankenspielereien neigte, ergab sich eine reizvolle Variante. Hans gleich Johnny, Guitar gleich Gitarre. Winfried Meilhofer glaubte sich zu erinnern, Frankie habe einmal erwähnt, Hans Böckel sei der Gitarrenspieler im Trio gewesen. Mochte Georg Frankenberg auch am 16. Mai mit einem Armbruch in Vaters Obhut gelegen haben. Hans Böckel konnte ihr durchaus an diesem Tag begegnet und sie über ihn an Heroin gekommen sein.
Er hatte nicht viel Hoffnung, von ihrem Vater etwas Wesentliches zu erfahren. Er hatte auch nicht vor, den Mann unter Druck zu setzen. «Haben Sie sich an Ihrer Tochter vergangen, Herr Rosch? Haben wir die Katastrophe Ihnen zu verdanken?» Darum konnte sich später der Gutachter kümmern. Er wollte nur ein bisschen Aufschluss über die Zeit von Mai bis November. Und den Namen der Klinik, in der ihre Kopfverletzung behandelt worden war.
Auf sein Klingeln an der Haustür öffnete ihm eine Frau, die vom Aussehen her in die Stadt passte. Blitzsauber und jugendlich, sodass er unwillkürlich schluckte. Cora Benders Worte schossen ihm durch den Kopf. «Mutter ist fünfundsechzig.» Die Frau an der Tür war höchstens Mitte vierzig, modisch gekleidet, eine flotte Kurzhaarfrisur, ein dezentes Make-up. Sie hielt ein Tuch in der Hand, als habe er sie beim Abwasch gestört.
Er stellte sich vor, ohne den Grund für seinen Besuch oder seinen Beruf anzugeben, und erkundigte sich zögernd: «Frau Rosch?»
Sie lächelte. «Gott behüte! Ich bin die Nachbarin, Grit Adigar.»
Ihm fiel ein kleiner Stein vom Herzen, nur ein winzig kleiner. «Ich hätte gerne Herrn Rosch gesprochen. Wilhelm Rosch.»
«Er ist nicht hier», erklärte Grit Adigar.
«Wann kommt er zurück?», fragte er.
Grit Adigar antwortete nicht, wollte stattdessen wissen: «In welcher Angelegenheit möchten Sie ihn sprechen?» Und noch bevor er etwas erklären konnte, schien sie zu begreifen. Sie spähte über seine Schulter zu dem Fahrzeug, das er am Straßenrand geparkt hatte, und nickte gedankenverloren. «Es geht um Cora. Sie sind von der Polizei, nicht wahr?»
Wieder kam er nicht dazu, etwas zu sagen. «Margret sagteschon, dass wahrscheinlich jemand käme», erklärte Grit Adigar. «Kommen Sie erst mal rein. Das müssen wir ja nicht an der Haustür regeln.»
Sie trat von der Tür zurück. Und damit veränderte sich alles.
Hinter der Tür lag ein schmaler, dämmriger Flur, die Tapeten an den Wänden waren mindestens so alt wie das Haus. Links ging es eine Treppe hinauf, auf den Stufen lag ein abgewetzter Läufer mit Streifen. Geradeaus stand eine Tür spaltbreit offen, durch die ein schmaler Streifen Tageslicht einfiel. Hinter dieser Tür lag die Küche. Rechts daneben war noch eine Tür. Dass auch die offen stand, bemerkte er erst, als er näher kam.
Der Raum dahinter musste das Wohnzimmer sein. Das Fenster führte hinaus auf die Straße. Von den reinweißen Gardinen war innen nichts zu sehen. Die Vorhänge waren aus schwerem braunem Stoff und zugezogen. Der Raum lag im Dunkeln. In der offenen Tür stand eine weitere Frau.
Er zuckte zusammen, als sie plötzlich einen Schritt vortrat. Ein Gesicht wie eine
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