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Die Sünderin

Die Sünderin

Titel: Die Sünderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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tun. Nur mal horchen, wie sich ein Luftballon mit Löchern anhört.»
    Sie wünschte sich, sie könnte einen Freund haben, später, mit fünfzehn oder sechzehn. Oder besser sofort, weil sie nicht glaubte, dass sie fünfzehn oder sechzehn werden konnte.
     
    Nachdem der Chef sie verlassen hatte, brauchte sie fast eine Stunde, um sich zu beruhigen. Sie verstand nicht, wie sie sich hatte hinreißen lassen können, ihm diese wüste Geschichte zu erzählen, wo sie doch die Tücher bereits in der Hand hielt. Mit zwei Männern geschlafen! Das hatte sie wohl getan in dem schmutzigsten Kapitel ihres Lebens. Da war jedenfalls kurz etwas aufgeblitzt.
    Und dann hatte sie Vater vor sich gesehen – mit heruntergelassener Hose und höllischer Wut. Beinahe wäre auch das aus ihr herausgebrochen. Sie hatte es eben noch verhindern können, indem sie den Arzt zum Sündenbock machte.
    Es war unverzeihlich. Dieser Mann hatte ihr das Leben gerettet und nichts von ihr verlangt. Ein gütiger, freundlicher Mensch war er gewesen. Niemals hatte er sie in der Art berührt, die sie dem Chef geschildert hatte. Er war kein schmierigeralter Mann gewesen, nur ein Mann im weißen Kittel, der den kleinen Fehler begangen hatte, sich einmal ein bisschen betrunken in sein Auto zu setzen.
    Höchstens Anfang fünfzig war er gewesen. Ein schmales Gesicht hatte er gehabt und einen dunklen, sauber gestutzten Vollbart. Wenn er zu ihr kam, hielt er meist eine Spritze in der Hand. Seine Hände waren schmal und sehr gepflegt gewesen. Und eine warme, sanfte Stimme hatte er gehabt. «Wie fühlen Sie sich? Jetzt werden Sie gleich schlafen.»
    Ihre Armbeugen waren von eitrigen Geschwüren übersät. In ihrem Handrücken steckte eine Kanüle. In die injizierte er. Und sofort danach kam die Dunkelheit, das Ende der rasenden Schmerzen. Im Kopf waren sie unerträglich. Es war ein Hämmern, Bohren und Stechen, als sei ihr Schädel in einen Schraubstock gespannt. Dabei war es nur ein Verband.
    Schädelfrakturen, sagte der Arzt später, als sie endlich so weit war, dass sie ihn fragen konnte. Unter anderem, sagte er, da seien noch mehr Verletzungen gewesen. Und die hätten unmöglich von dem kleinen Aufprall herrühren können. Er sei nicht schnell gefahren, habe sofort gebremst und sie praktisch nur mit dem Kühlergrill gestreift, als sie ihm vor den Wagen taumelte. Vor drei Wochen, als sie aus dem Nichts der Dunkelheit am Rand einer Landstraße auftauchte.
    Drei Wochen ohne Bewusstsein?
    «Seien Sie froh», meinte er. «Das Schlimmste haben Sie verschlafen. Entzug ist eine scheußliche Sache. Der gesamte Körper rebelliert, alle Nerven spielen verrückt. Aber Sie haben nichts davon bemerkt.»
    Er fragte sie nach ihrem Namen. Sie habe keine Papiere bei sich gehabt, sagte er. Er fragte sie auch, ob sie wisse, was mit ihr geschehen sei. Sie wusste es nicht. Es war alles weg. Nicht nur die drei Wochen, von denen er sprach, mehr als fünf Monate waren ausgelöscht.
    Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war der Samstag in derzweiten Maiwoche. Magdalenas Geburtstag! Eine Flasche Sekt! Bei Aldi – nicht geklaut – gekauft zur Feier des Tages. Drei Tage im Schuppen versteckt. Unter den alten Kartoffelsäcken hervorgeholt, nachdem Mutter und Vater das Haus verlassen hatten, um einen weiteren Abend im Kreise der Hoffnungslosen zu verbringen, die sich an den Himmel klammerten, weil sie nicht allein auf der Erde stehen konnten.
    Der Sekt war warm, als sie ihn ins Haus holte. Sie legte die Flasche in den Kühlschrank. Dort blieb sie bis kurz vor acht am Abend. Um acht wollte Magdalena mit einem Schlückchen auf ihr neues Lebensjahr anstoßen. Nur mit einem Schlückchen. «Das wird mir bestimmt nicht schaden», meinte sie. «Und vielleicht hilft es, das Jahr voll zu machen.»
    Daran glaubte niemand, nur Magdalena und sie. Sie natürlich auch, ganz fest. Aber die Ärzte in Eppendorf nicht – wie üblich. Im April war Magdalena wieder einmal in der Klinik gewesen. Sie hatte entschieden länger bleiben müssen als die vorgesehenen zwei Tage. Über den Grund wollte Magdalena nicht sprechen.
    «Ich gebe was auf den Humbug, den die mir immer servieren. Wenn es nach denen ginge, wäre von mir längst nichts mehr übrig. Die begreifen nicht, wie es funktioniert. Die können sich von mir aus mein Herz und meine Bauchaorta in ihre Hintern schieben. Und meine Nieren hinterher. Ich brauche nichts weiter als meinen Willen. Das ist es, Cora! Man muss leben wollen, dann lebt man auch. Das beweise

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