Die Sünderin
Eberhard Brauning.» Den Doktor ließ er weg. Der Titel schien so unpassend angesichts der Glasaugen in dem gelbgrünen Gesicht.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, ließ keine Regung erkennen.
«Mein Anwalt», murmelte sie. Ihre Stimme klang nach gar nichts.
«Ich bin vom Gericht mit der Wahrnehmung Ihrer Interessen oder, einfacher ausgedrückt, mit Ihrer Verteidigung beauftragt. Sie wissen, was Ihnen zur Last gelegt wird?»
So wie sie dastand, hätte er geschworen, dass sie es nicht wusste. Sie beantwortete seine Frage auch nicht. «Es ist ziemlich heiß hier drinnen», stellte sie fest und drehte sich wieder dem vergitterten Fenster zu. «Dabei sieht es draußen bewölkt aus. Das ist kein Wetter zum Schwimmen. Ich hätte bei der ersten Runde im Wasser bleiben sollen. Ich hätte längst alles vergessen und könnte jetzt in Ruhe und Frieden mit dem Mann da unten leben.»
Ein zittriger Atemzug ließ ihre Bluse flattern. «Darüber haben wir heute Morgen gesprochen, der Herr Professor und ich. Dass ich mit dem Mann im See leben wollte. Und freitags hätte ich zu ihm gesagt: Du irrst dich, mein Lieber, heute ist schon Montag. Aber heute ist Freitag, oder? Ich habe den Professor gefragt heute Morgen. Und er sagte, heute sei Freitag.»
Sekundenlang war sie still, dann drehte sie den Kopf wieder in seine Richtung und betrachtete ihn über die Schulter mit kritisch abschätzendem Blick. «Oder hat er mich angelogen? Wenn Sie mir einen großen Gefallen tun wollen, dann sagen Sie mir, dass er mich belogen hat. Es ist ein Kreuz mit den Weißkitteln. Wenn man denkt, sie sagen die Wahrheit, irren sie sich. Und wenn man denkt, sie müssen sich irren, sagensie die Wahrheit. So einer hat mir mal gesagt, ich sei eine süchtige Hure, eine, die sich nur mit perversen Freiern einließ.»
Sie hob kurz die Schultern an, ließ sie gleich wieder fallen. «Der hat sich leider auch nicht geirrt. Die Perversen zahlen einfach besser. Und ich musste eine Menge Geld zusammenbringen bis zum Tag X. Es hing doch alles von mir ab. Und sie hat verlangt, dass ich es tue. Sie wollte, dass ich mit meinem Körper für ihr Herz zahle.»
Ein flüchtig wehmütiges Lächeln brachte für den Bruchteil einer Sekunde Leben in ihr Gesicht. Es war gleich wieder vorbei. «Ich hätte alles für sie getan», erklärte sie. «Das Herz hätte ich mir herausgerissen und es ihr gegeben, wenn es nur möglich gewesen wäre. Sie wusste das. Sie wusste eine Menge über kaputte Typen. Sie wusste auch, dass ich so kaputt war, dass es eigentlich nicht mehr darauf angekommen wäre.»
Eberhard Brauning konnte nichts weiter tun als sie anstarren und sich nur einen ungefähren Reim auf das machen, was sie von sich gab. Herz, Schwester.
Sie nickte gedankenverloren vor sich hin. «Aber das konnte ich nicht für sie tun. Ich war doch erst sechzehn. Ich hatte noch nie mit einem Mann geschlafen. Die ganze Nacht habe ich geheult und gebettelt, dass ihr etwas anderes einfällt. Und wissen Sie, was sie sagte: ‹Du sollst ja auch nicht mit einem ficken, du Schaf. Der normale Verkehr bringt nicht viel. Nur mit SM kannst du richtig Kasse machen, und dabei musst du deine Möse nicht für so einen Drecksack hinhalten. Du brauchst den alten Knackern nur ordentlich was überzuziehen. Gib ihnen die Peitsche. Kneif ihnen in den Sack, stech ihnen Nadeln in die Schwänze, so wollen sie das.› Aber ich konnte auch keine alten Männer quälen. Allein die Vorstellung!»
Sie legte eine Hand vor den Mund. Das bedächtige Nickenging in ein ebenso bedächtiges Kopfschütteln über. «Sie sagte, ich soll dabei einfach an Vater denken. Wie er sich an mir aufgegeilt hätte. Sie hätte, als ich ihr zeigte, wie er mir an das Höschen fühlte, nur verhindern wollen, dass ich hysterisch wurde, sagte sie. Nur deshalb hätte sie mir erklärt, es sei nichts dabei. Aber um festzustellen, ob ich ins Bett gepinkelt habe, hätte er mir nicht zwischen die Beine greifen müssen. Da hätte ein Blick aufs Laken gereicht. Als sie das sagte, wusste ich, dass sie ein Biest ist. Aber jeder versucht es auf seine Weise, nicht wahr? Sie wollte doch auch nur leben.»
Eberhard Brauning brachte ein zustimmendes Nicken zustande und sagte: «Das wollen wir doch alle.»
Sie nickte ebenfalls. «Ich hätte es besser getan. Viele wollen es ja wirklich so. Denen tut man nur einen Gefallen, wenn man sie demütigt und quält. Und damit hätte ich sie mir auf legale Weise vom Hals schaffen können. Ich musste sie mir doch
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