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Die Sünderin

Die Sünderin

Titel: Die Sünderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Limonade fragte. Es war ein Elektroherd. Einen Kühlschrank hatten wir auch. Aber die restliche Einrichtung unserer Küche bestand noch aus den alten, klobigen Holzmöbeln, die sie nach ihrer Hochzeit angeschafft hatten. Alles im Haus war alt, Mutter auch.
    An dem Tag damals war sie schon vierundvierzig, eine große Frau mit einem mageren Gesicht. Sie sah viel älter aus, als sie war. Für sich selbst hatte sie keine Zeit. Das Haar hing ihr grau und strähnig bis auf die Schultern. Wenn es zu lang wurde, schnitt sie ein Stück ab.
    Sie trug einen bunten Kittel und rührte in einem Topf. Das Wasserglas hatte sie in den Spülstein gestellt. Sie drehte sich zu mir um und fragte: «Himbeerlimonade?»
    Sie hatte eine sanfte Stimme und sprach immer sehr leise, sodass man gezwungen war, genau hinzuhören. Sie schüttelte den Kopf, als sei ihr völlig unverständlich, was mich auf einen so absurden Gedanken gebracht haben könnte. Dann sprach sie weiter in ihrer ruhigen, bedächtigen Art: «Weißt du, was man unserem Erlöser reichte, als er sterbend sagte: Mich dürstet? Einen mit Essig getränkten Schwamm hielt man ihm an die Lippen. Ein Becher mit Wasser hätte ihn glücklich gemacht und seine Leiden gelindert. Aber er hat sich nicht beklagt und gewiss nicht nach Himbeerlimonade gefragt. Was lernst du daraus?»
    Es kann nicht das erste Gespräch dieser Art gewesen sein, das ich mit Mutter führte oder sie mit mir. Weil ich die Antwortauswendig wusste. «Dass unser Erlöser immer zufrieden war.»
    Und ich war nie zufrieden. Ich war ein schwieriges Kind, trotzig, aufbrausend, egoistisch. Ich wollte alles – und alles für mich allein. Und wenn man mich nicht hinderte, nahm ich es mir einfach. Mutter hatte mir erklärt, dass Magdalena nur deshalb so krank war. Magdalena war ja aus Mutters Bauch gekommen. Und kurz vor ihr war ich in Mutters Bauch gewesen. Und ich hatte all die Kraft, die Mutter in sich getragen hatte, die für mindestens drei Kinder gereicht hätte, wie sie mir oft sagte, für mich allein genommen. Für Magdalena war nichts übrig geblieben.
    Es war mir egal, wenn Mutter mir so etwas erzählte. Ich wollte zwar nicht unbedingt ein schlechter Mensch sein, aber solange es um meine Schwester ging, war mir das Gutsein nicht so wichtig. Ich mochte Magdalena nicht. Für mich war sie ein Ding wie ein Stück Holz. Sie konnte nicht laufen und nicht sprechen. Sie konnte nicht mal richtig weinen. Wenn ihr etwas wehtat, quietschte sie. Die meiste Zeit lag sie im Bett und manchmal für eine Stunde in einem Sessel in der Küche. Aber das war dann schon ein sehr guter Tag.
    Natürlich durfte ich nicht aussprechen, was ich dachte. Ich musste genau das Gegenteil sagen. Aber das konnte ich sehr gut. Ich sagte immer nur das, was die Leute hören wollten. Mutter war mit meiner Antwort zufrieden. «Meinst du nicht auch, dass du dir an unserem Erlöser ein Beispiel nehmen solltest?», fragte sie. Ich nickte eifrig. Und Mutter sagte: «Dann geh und bitte ihn um Kraft und Gnade.»
    Ich war immer noch durstig. Aber ich wusste, dass ich nicht einmal mehr das Glas mit dem Leitungswasser von ihr bekäme, solange ich nicht gebetet hatte, und ging in unser Wohnzimmer.
    Es war genauso schäbig und altmodisch eingerichtet wie die Küche. Eine verschlissene Couch, ein niedriger Tisch aufdünnen, schräg stehenden Beinen und zwei Sessel. Aber niemand, der den Raum betrat, hatte Augen für die abgewetzten Möbel.
    Der Blick fiel immer zuerst auf den Altar in der Ecke beim Fenster. Eigentlich war es nur ein Schrank, von dem Vater das Oberteil hatte absägen müssen. Davor stand eine harte Holzbank, auf der man nur knien durfte. Auf dem Schrank lag eine mit Kerzen bestickte weiße Decke, auf der immer eine Vase mit Blumen stand. Meist waren es Rosen.
    Sie waren sehr teuer. Aber Mutter kaufte sie gerne, auch wenn sie mit dem Haushaltsgeld nicht hinkam. Dem Erlöser ein Opfer zu bringen müsse einem das Herz mit Freude füllen, sagte sie. Mein Herz füllte sich nie mit Freude. Es war voll mit der Vermutung, dass ich weggegeben worden war. Meine richtige Mutter Grit Adigar musste schon vor langer Zeit erkannt haben, dass ich ein schlechter Mensch war. Sie wollte nicht, dass Kerstin und Melanie darunter leiden mussten und am Ende ebenso krank wurden wie Magdalena. Deshalb hatte Grit mich zu dieser Frau gebracht, die genau wusste, wie man einen schlechten Menschen gut macht.
    Aber wenn ich allen zeigte, dass ich ein gutes Kind war, wenn ich fleißig

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