Die Sünderin
betete und nicht sündigte, jedenfalls nicht so, dass es einer merkte, dann durfte ich sicher bald wieder für immer bei meiner richtigen Familie sein, dachte ich.
Dass alle Leute wirklich überzeugt waren, ich könnte dem kranken Kind Magdalena den nächsten Tag beschaffen, mochte ich mir nicht vorstellen. Ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich das anstellen sollte. Und es hätte bedeutet, dass ich nie mehr heim durfte, dass ich auf ewige Zeiten bei der komischen Frau und unserem Erlöser bleiben musste.
Er stand auf dem Schrank, zwischen der Blumenvase und vier Kerzenleuchtern mit hohen weißen Kerzen. Aber er stand nicht richtig. Er war mit winzigen Nägeln an einem dreißig Zentimeter hohen Holzkreuz befestigt. Außerdemwar er im Rücken geklebt. Ich hatte ihn mal vom Schrank genommen und untersucht, als Mutter nicht in der Nähe war.
Ich wollte nur feststellen, ob er die Augen aufmachte. Mutter behauptete, er könne seinen Blick tief in die Herzen der Menschen versenken und alle Sünden und Begierden sehen. Aber er machte die Augen nicht auf, obwohl ich ihn schüttelte, an der Dornenkrone auf seinem schmerzgebeugten Haupt wackelte und gegen seinen Bauch klopfte. Es hörte sich an, als hätte ich gegen den Tisch geklopft.
Dass er mir auf die Schliche käme, glaubte ich nicht. Ich hatte keinen Respekt vor ihm. Nur vor Mutter, die mich zwang, vor ihm zu knien, dreimal am Tag oder öfter um Gnade, Kraft und Erbarmen zu bitten. Mein Herz sollte er rein machen. Ich wollte kein reines Herz. Ich hatte ein gesundes, das reichte mir. Mir die Kraft zum Verzicht geben sollte er. So eine Kraft wollte ich auch nicht.
Immer nur verzichten – auf Bonbons, Himbeerlimonade und andere Köstlichkeiten. Den Kuchen zum Beispiel, den uns Grit Adigar regelmäßig anbot. Sie backte ihn selbst, jeden Samstag einen – mit dicken Zuckerstreuseln. Und montags kam sie mit einem Teller, auf dem drei oder vier Stücke lagen. Die waren dann schon ein bisschen ausgetrocknet, das machte aber nichts. Mutter lehnte immer ab. Und mir lief das Wasser im Mund zusammen, wenn ich den Teller nur sah.
Wenn ich zu lange hinschaute, sagte Mutter: «Du hast wieder deinen begehrlichen Blick.» Dann schickte sie mich ins Wohnzimmer. Und dann kniete ich vor dem Kreuz auf dem Schrank in der Ecke, an dem der Erlöser sein Blut für unsere Sünden vergossen hatte.
Es war ein irritierender Moment, neben dem Toten zu knien, sein Blut zu sehen und das Entsetzen der anderen. Die Frau mit den weißblonden Haaren wollte sich von ihr nicht anfassen, nicht aufhelfen und nicht fortbringen lassen. Sie schlugmit beiden Händen nach ihr, als sie ihrem Bein zu nahe kam. Der sitzende Mann sagte, sie solle Ute in Ruhe lassen. Das tat sie dann. Ute ging sie nichts an.
Sie entschuldigte sich bei Gereon für die Stiche in den Arm. Er schlug ihr wieder mit der Faust ins Gesicht. Und der sitzende Mann – er saß längst nicht mehr, er kniete ihr gegenüber und untersuchte den Toten. Aber da es ein zeitloser Moment war, etwas für die Ewigkeit, musste er der sitzende Mann bleiben – schrie er Gereon an: «Lassen Sie das, verdammt! Jetzt hören Sie endlich auf!» Und Gereon schrie: «Bist du wahnsinnig geworden? Warum hast du das getan?» Das wusste sie nicht, und irgendwie war es peinlich.
Sie wäre gerne allein gewesen mit dem Toten, nur für ein paar Minuten, um ihn in Ruhe anzuschauen, um die Gefühle zu genießen, die sein Anblick auslöste; diese Zufriedenheit, die grenzenlose Erleichterung und den Stolz. Als sei eine unangenehme Arbeit, die sie lange vor sich hergeschoben hatte, nun endlich erledigt. Fast hätte sie gesagt: «Es ist vollbracht!» Das sprach sie nicht aus, sie saß nur da und fühlte sich prächtig.
Daran änderte sich auch nichts, als die ersten Polizisten kamen. Sie waren zu viert, uniformierte Beamte. Einer wollte von ihr wissen, ob das kleine Schälmesser ihr gehöre. Als sie das bestätigte, fragte er, ob sie den Mann damit getötet hätte.
«Ja, natürlich», sagte sie. «Das war ich.»
Und der Polizist erklärte, sie müssten sie festnehmen, sie brauche keine Aussage zu machen, habe das Recht auf einen Anwalt und so weiter.
Sie erhob sich. «Vielen Dank», sagte sie. «Ich brauche keinen Anwalt. Es ist alles in Ordnung.» Das war es auch. Es war alles bestens. Diese wundervollen Gefühle, der Jubel, der innere Frieden, etwas Ähnliches hatte sie noch nie empfunden.
Ein Polizist forderte Gereon auf, frische Unterwäsche für sie
Weitere Kostenlose Bücher