Die Sünderin
aus der Umhängetasche zu nehmen und ihm ihre Ausweispapiereauszuhändigen. Dass sie selbst in die Tasche griff, gestattete er nicht. Sie durfte nur ihren Rock und das T-Shirt nehmen. An ein Handtuch dachte sie nicht.
Gereon begann in der Tasche zu kramen und schrie erneut: «Du bist ja völlig daneben. Du hast mich auch gestochen.» Sie antwortete ihm ruhig und beherrscht. Daraufhin reichte Gereon dem Polizisten ihre Unterwäsche. Dem blieb nichts anderes übrig, als sie zu nehmen und mit neutraler Miene an sie weiterzureichen.
Sie erlaubten ihr, sich zu waschen. Zwei Uniformierte begleiteten sie zur Personaltoilette, die in dem Flachbau beim Eingang lag. Das Waschbecken war schmutzig, der Spiegel darüber fast blind und mit unzähligen Wassertropfen bespritzt. Trotzdem erkannte sie ihr Gesicht klar und deutlich. Sie tastete über die rechte Schläfe. Dort war die Haut aufgeplatzt. Das Augenlid war dick geschwollen. Sie konnte auf dieser Seite nur durch einen schmalen Spalt blinzeln. Es störte nicht.
Sie strich mit der Zungenspitze über die Oberlippe, schmeckte Blut und dachte an die Holzfigur in der Wohnzimmerecke, an die rote Farbe an Händen und Füßen, die Wunde an der Seite, von der mehrere dünne Streifen nach unten führten. Schon mit vier Jahren hatte sie gewusst, dass es nur Farbe war. Aber das Blut des Mannes, das Blut auf ihrem Gesicht, auf ihrem Körper, das war echt. Und das war die Erlösung.
Alles war rot. Der Badeanzug, die Arme, die Hände, sogar ihr Haar war verschmiert. Sie hätte es gerne so gelassen. Aber sie wollte die Polizisten nicht verärgern, drehte den Wasserhahn auf, säuberte Hände und Arme, hielt den Kopf unter den dünnen Strahl und schaute zu, wie das Blut ins Becken lief. Mit Wasser vermischt wirkte es hell, fast wie die Himbeerlimonade damals. Dabei war es gar keine Limonade gewesen, nur zähflüssiger Sirup mit Wasser verdünnt.
Irgendwann hatte Mutter kapituliert und ein Zugeständnis gemacht an die Begierden. Ein Glas süßes Wasser pro Tag. Genau genommen zwei, eins für sie und eins für Magdalena. Sie sah sich wieder stehen vor dem alten Küchentisch, dessen Platte so viele Kratzer und Kerben hatte. Sah sich mit aufmerksamem Blick verfolgen, wie Mutter Sirup in zwei Gläser goss, sorgsam darauf achtend, dass in beide gleich viel rann. Und sie sah sich rasch nach dem Glas greifen, in dem es vielleicht ein Zehntelmillimeter mehr war. Damit zum Wasserhahn laufen, bevor Mutter den feinen Unterschied bemerkte und sie in die Wohnzimmerecke scheuchte.
Seit Jahren hatte sie nicht mehr daran gedacht, und jetzt war es, als sei es gestern gewesen. Vater mit seinem Bemühen, sich die Sünde vom Leib zu reißen, und den alten Buchholzer Geschichten, immer nur früher, als ob es kein Heute und kein Morgen gegeben hätte. Mutter mit den bunten Kittelschürzen, den strähnigen Haaren und dem Kreuz. Und Magdalena, das blauschimmernde Porzellangesicht, vom immer gegenwärtigen Tod mit Intensität und Makellosigkeit gezeichnet. Die büßende Magdalena, ein Bündel Kraftlosigkeit, das für die Sünden anderer litt.
Es war vorbei. Der Erlöser hatte sein Blut gegeben, die Schuld der Menschen auf sich genommen und ihnen mit seinem Tod den Weg in den Himmel geebnet. Sie sah sein Gesicht vor sich, seinen Blick, das Begreifen in seinen Augen, das Verstehen, das Verzeihen. Und die Bitte: «Vater, vergib ihr, denn sie weiß nicht, was sie tut.» Kein Mensch konnte alles wissen!
Sie wusch auch den Badeanzug aus, benutzte ihn wie einen Schwamm, um Brust und Bauch damit zu reinigen. Das Wasser streifte sie mit den Händen ab. Es gab zwar ein Handtuch, es hing neben dem Waschbecken an einem Haken. Aber es war so schmutzig, als hinge es seit Wochen da. Dann zog sie sich an. Die Unterwäsche und das T-Shirt klebten auf der Haut,wurden feucht und durchscheinend. Einen Augenblick zögerte sie, schaute an sich hinunter. Die Brüste zeichneten sich unter dem dünnen Stoff ab. So konnte sie nicht hinausgehen. Vor der Tür warteten die Polizisten, Männer! Es musste provozierend wirken, wenn sie ihnen so gegenübertrat. Mutter bekäme einen Anfall, Mutter sähe sich gezwungen, die Kerzen vor dem Hausaltar anzuzünden, sie auf die Knie zu zwingen …
Sie verstand nicht, warum das plötzlich so gegenwärtig war. Und so wichtig! Sie musste es gewaltsam abschütteln und wurde es doch nicht los. Die Kerzenflammen tanzten weiter vor ihren Augen. Sie blinzelte heftig, um das Bild zu vertreiben. Als das
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