Die Sünderin
Bender, nur einen Mann, nicht den Erlöser. Diesen Ausdruck will ich von Ihnen nicht mehr hören. Wir werden herausfinden, warum Sie es getan haben. Wir werden beweisen, dass es einen Grund gab, den jeder normale Mensch versteht. Und in ein paar Jahren, Frau Bender, sind Sie wirklich frei. Denken Sie einmal darüber nach. Sie sind gerade vierundzwanzig. Sie können noch einmal …»
An ihrem Blick änderte sich kaum etwas. Nur ein leichter Ausdruck von Verwunderung zog über ihre Miene, mehr war es nicht. «Er wusste, wie alt ich war», sagte sie und unterbrach ihn damit.
«Aha», meinte er, ahnungslos, von wem die Rede war, und unsicher, ob er sie jetzt zurück auf den Punkt bringen durfte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht zeugte von Konzentration.
«Woher wusste er das, wenn ich keine Papiere bei mir hatte? Nackt auf der Straße, hat er gesagt, schwer verletzt, voll gepumpt mit Heroin und ohne Papiere. Und dann sagte er: Sie sind nicht einmal zwanzig. Hat er das geschätzt? Anmeinem Gesicht konnte er es nicht ablesen. Ich sah furchtbar aus. Schauen Sie mal in meinen Führerschein. Ich musste mir ja damals neue Papiere machen lassen. Ich hatte noch alte Fotos. Aber die wollten sie auf dem Amt nicht nehmen. Sie wollten mir nicht einmal glauben, dass es meine Fotos sind. Weil ich so alt aussah. Er konnte es nicht wissen.»
Ein paar Sekunden lang war sie still, strich mit den Fingern über die Stirn und seufzte. «Seinen Namen weiß ich wirklich nicht», sagte sie dann endlich. «Er hat ihn mir nicht gesagt. Ich habe ihn einmal gefragt, wo ich bin. Das hat er mir auch nicht gesagt. Und ich weiß nicht, wie ich in den Zug gekommen bin. Ein Schaffner hat gesagt, ich müsste jetzt aussteigen. Ich hatte einen Zettel, da stand drauf, wo ich hinmuss. Geld hatte ich auch. Irgendeiner muss dem Taxifahrer den Zettel und das Geld gegeben haben. Grit sagte, ich sei mit einem Taxi gekommen.»
Sie seufzte noch einmal und hob bedauernd die Achseln. «Wenn Sie mir versprechen, dass Sie mir helfen, meine Schwester zu verbrennen, ohne dass Margret und Achim für den Schein und die fremde Frau bestraft werden, werde ich Ihnen den Arzt beschreiben. Mehr kann ich nicht tun. Versprechen Sie es mir?»
Er versprach es, und eine halbe Stunde später sagte er ins Telefon: «Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, Herr Grovian. Sie bleibt dabei. Nur ein Arzt und eine Krankenschwester, die jedoch nur selten kam. Ihr Zimmer sei ein kleines Kämmerchen gewesen, sagte sie. Ohne Fenster, gerade Platz genug für ein Bett und ein paar medizinische Geräte. Für mich klang es nach einer Abstellkammer.»
Dann gab er die Beschreibung des Mannes durch. Danach war es sekundenlang still in der Leitung. «Herr Grovian?» erkundigte er sich, zweifelnd, ob noch jemand am Apparat war.
«Ja, ich bin noch da», kam es zurück. «Ich bin nur …» Wiederfolgten ein paar Sekunden Stille. «Mein Gott», sagte Rudolf Grovian dann fassungslos, «das ist doch völlig ausgeschlossen. Das sind doch … wie viele Kilometer sind das denn? Siebenhundert mindestens. Das ist doch unmöglich.»
Sie saß neben ihm im Wagen, seit gut einer halben Stunde schon. Zu Beginn der Fahrt hatte Rudolf Grovian versucht, sie auf die Gegenüberstellung vorzubereiten. Er hatte ihr erklärt, wohin die Fahrt ging und welchem Zweck sie dienen sollte. In Absprache mit dem Staatsanwalt, dem Untersuchungsrichter, Professor Burthe und Eberhard Brauning hatte er ihr jedes Wort in den Mund gelegt – mindestens dreimal.
Unter normalen Voraussetzungen hätte es nicht mehr den geringsten Wert gehabt. Doch die Voraussetzungen waren alles andere als normal. Sogar Professor Burthe war der Ansicht – und hatte den Untersuchungsrichter ebenso davon überzeugt wie den Staatsanwalt, dass man sie nur mit der Peitsche dazu bringen könnte, ihren Finger zu heben. «Das war der Mann, der meine Kopfverletzung behandelt hat.»
Rudolf Grovian brauchte keine Peitsche, er war der Chef. Zugehört hatte sie ihm, auch einmal genickt, als er fragte, ob sie alles verstanden habe und ob sie ihm diesen Gefallen täte, wo er soviel Arbeit und Zeit investiert habe, den Arzt ausfindig zu machen.
Facharzt für Neurologie und Unfallchirurgie. Chef in der eigenen Klinik. Professor Johannes Frankenberg!
Er hätte ihr den Namen verschweigen sollen. Es fiel ihm nicht schwer, sich in ihre Gedankengänge einzufinden. Wenn Frankie der Erlöser gewesen war, musste Johannes Frankenberg zwangsläufig der liebe
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