Die Sünderin
Herzgegend beschränkt. Im Hirn breitete sich ganz allmählich und schleichend etwas aus, was das Geschehen aus einer anderen Perspektive betrachten wollte; mit den Augen der Menschen, die an den See gefahren waren, um einen entspannten Nachmittag zu erleben.
Das Kind fiel ihr ein, wie es auf der Decke gesessen und geweint hatte. Der arme kleine Kerl hatte sich das auch ansehen müssen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass er zu kleinwar, um sich alles zu merken. Er würde vergessen, was er gesehen hatte. Er würde sie vergessen. Er würde bei Gereon und den Schwiegereltern aufwachsen. Die Schwiegermutter war sehr gut zu ihm. Auch der Alte, dieser grobe Klotz, hütete den Enkel wie ein rohes Ei.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Und sie war so in Gedanken versunken, dass sie keinen Meter registrierte. Als der Wagen anhielt, als Berrenrath ausstieg und sie zum Aussteigen aufforderte, tauchte sie für einen Moment auf und versank gleich wieder in der Vorstellung von Zukunft, um sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen zu müssen.
Lebenslänglich! Das war ihr klar. Immerhin hatte sie einen Mord begangen. Das war ihr auch klar. Strafe musste sein. Doch wer das Kreuz erlebt hatte, den konnten Gitter nicht erschrecken. Die Vorstellung einer Zelle hatte nichts Bedrohliches. Geregelte Mahlzeiten und Arbeit in der Küche oder der Wäscherei, vielleicht in einem Büro, wenn sie sich gut führte und allen zeigte, was sie leisten konnte.
Es konnte nicht viel anders sein als die drei Jahre mit Gereon. Ob ihr nun die Schwiegereltern oder ein paar Wärterinnen auf die Finger schauten, das machte keinen Unterschied. Nur die Wochenenden fielen weg. Nie mehr eine Zigarette, die mit den letzten erlöschenden Glutpünktchen im Aschenbecher den Startschuss für den Wahnsinn gab.
Als sie das nächste Mal auftauchte, saß sie auf einem Stuhl in einem hellgestrichenen Raum. Ein paar weitere Stühle standen wahllos herum, in der Mitte zwei Schreibtische, auf denen sich ein Durcheinander von Papieren zwischen einer Schreibmaschine und einem Telefon verteilte. Es störte sie. Sie hätte gern aufgeräumt und überlegte, ob sie die Polizisten um Erlaubnis fragen müsste.
Der Jüngere stand neben der Tür, Berrenrath bei einem großen Fenster, an dem zwei Topfpflanzen dahinkümmerten. Es fiel noch genügend Sonne ein, um die Augen zu reizen.Und sie hatte ihre Brille vergessen. Rechts neben den Topfpflanzen lagen ein paar Akten. Die Akte Cora Bender, dachte sie flüchtig. Es musste eine dünne Akte werden. Es war ja alles klar. Natürlich musste man ihr ein paar Fragen stellen, und …
Es hätte sich dringend jemand um die Pflanzen kümmern müssen. Das war mitleiderregend. Sie mussten den Nachmittag in der prallen Sonne gestanden haben, hatten braune Flecken auf den Blättern. Unter aller Garantie war die Erde pulvertrocken.
«Hören Sie, Herr Berrenrath», sagte sie, «Sie müssen die Pflanzen vom Fenster wegnehmen. Sie vertragen die Sonne nicht. Das ist, als ob sie unter einem Brennglas stehen. Wahrscheinlich brauchen sie auch Wasser. Darf ich mal sehen?»
Berrenrath schien verblüfft, nach ein paar Sekunden nickte er zögernd.
An der Wand neben der Tür befand sich ein Schrank mit einem Spülbecken. Auf der Abtropffläche stand eine alte Kaffeemaschine, in deren Kanne sich ein hässlicher brauner Film gebildet hatte. Sie wurde wohl nie richtig ausgespült. Neben der Maschine stand ein benutzter Kaffeebecher. Sie wusch ihn sorgfältig aus, dann griff sie nach der Kanne und wollte auch die reinigen.
«Lassen Sie das», sagte Berrenrath. «Setzen Sie sich bitte wieder hin.»
«Na, hören Sie mal», protestierte sie. «Sie haben mir erlaubt, die Blumen zu gießen. Und der Becher war schmutzig. Was ist denn dabei, wenn ich ein bisschen sauber mache?»
Berrenrath seufzte und zuckte mit den Achseln. «Schauen Sie von mir aus nach den Blumen. Aber sauber machen ist nicht Ihre Aufgabe.»
«Dann eben nicht», sagte sie, «ich hab’s nur gut gemeint.»
Sie füllte den Becher mit Wasser und ging zum Fenster. Tatsächlich war die Erde knochentrocken. Den Becher stelltesie erst einmal auf dem Fensterbrett ab, trug die beiden Pflanzen zum Schreibtisch, schob unauffällig zwei von den Stühlen zurecht und einige von den Papieren zu einem akkuraten Stapel zusammen, sodass ein wenig Platz frei wurde und es etwas aufgeräumter aussah. Dann holte sie den Becher und tränkte die Erde.
Die Polizisten schauten ihr ungläubig zu, als sie
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