Die Sünderin
das kann jeder Frau passieren. Es hat überhaupt nichts damit zu tun, ob man mit einem oder mit hundert Männern geschlafen hat. Ich habe nicht mithundert Männern geschlafen. Ich habe mir als kleines Kind schon vorgestellt, dass die Dinger eines Tages abfaulen müssen.»
Sie hielt die Finger der linken Hand mit der rechten umklammert und knetete sie, als wolle sie sie zerbrechen. Rudolf Grovian beobachtete sie mit einer Mischung aus Faszination und Triumph. Den Blick auf den Boden gerichtet, fuhr sie leise fort: «Aber mit Gereon war es schön. Er hat mich nie gezwungen. Er war immer gut zu mir. Ich hätte ihn nicht heiraten dürfen, weil ich … weil ich … Ich hatte doch diesen Traum. Aber der war länger nicht mehr gekommen. Und ich … Ich wollte doch nur …»
Sie brach ab, hob den Kopf und schaute ihm ins Gesicht, die Stimme von Panik zersplittert: «Ich wollte doch nur ein normales Leben mit einem netten jungen Mann. Ich wollte es genauso, wie andere es haben. Verstehen Sie das?»
Er nickte. Wer hätte es nicht verstanden? Und welcher Vater hätte sich nicht gewünscht, die eigene Tochter möge dasselbe Ziel verfolgen, glücklich und zufrieden sein mit einem netten, ordentlichen Mann?
Das war der Moment, in dem sich für Rudolf Grovian die Perspektiven verschoben. Er bemerkte es nicht, hielt sich noch Tage später für distanziert, für einen engagierten Polizisten, der auch mit dem Elend der Täter konfrontiert wurde und Mitleid haben durfte. Mitleid war nicht verboten, solange man darüber nicht das Ziel aus den Augen verlor. Das tat er keine Sekunde lang. Das Ziel seiner Arbeit war schließlich Aufklärung und Aufdeckung, in finsteren Winkeln stöbern und nach Beweisen suchen. Und es spielte keine Rolle, ob dieser Winkel in einem Gebäude, einem Waldstück oder in einer Seele lag.
Rudolf Grovian hatte nicht den Ehrgeiz, einen Part zu übernehmen, der kompetenten Fachleuten zugestanden hätte. Es war auch nicht seine Absicht, auf Biegen und Brechenzu beweisen, dass er richtig lag mit seiner ersten Vermutung. Er war nur ein Mensch, der herausgefordert wurde, der die ersten Alarmsignale übersah, die ein kippender Verstand ausschickte, der in Versuchung geriet und ihr erlag. Am Ende ging es für ihn nur noch darum zu beweisen, dass er ohne Schuld war.
Cora Bender kniff die Augen zu und stammelte: «So war es auch am Anfang. Es war alles ganz normal. Ich mochte es, wenn Gereon zärtlich war. Ich habe gern mit ihm geschlafen. Aber dann … hat es wieder angefangen. Es war nicht seine Schuld. Er hat es nur gut gemeint. Andere mögen das, die sind ganz wild darauf. Er konnte doch nicht ahnen, was er anrichtet, wenn er das mit mir macht. Das wusste ich doch selbst nicht, bis es passierte. Ich hätte mit ihm darüber reden müssen. Aber was hätte ich ihm denn sagen sollen? Dass ich nicht lesbisch bin? Das war es doch nicht – glaube ich. Ich weiß es nicht – aber … Ich meine, ich weiß ja, dass nicht nur Frauen es sich mit der Zunge machen. Männer tun das auch, und alle finden es schön. Nur ich nicht. Und es hörte nicht wieder auf. Ich dachte, es sei das Beste, wenn ich schwimmen gehe. Es hätte ausgesehen wie ein Unfall. Gereon hätte sich keine Vorwürfe machen müssen. Das ist ja das Schlimme, wenn jemand stirbt, dass man sich diese Vorwürfe macht. Dass man den Gedanken nicht los wird, man hätte es verhindern können. Das wollte ich ihm ersparen. Wenn das Kind mich nicht aufgehalten hätte, wäre nichts passiert. Da wäre ich längst weg gewesen, als sie ein Stück vorspulte.»
Sie begann mit einer Faust gegen ihre Brust zu schlagen, die Augen· hielt sie geschlossen, ihre Stimme bekam einen hysterischen Beiton. «Es war mein Lied! Es war mein Lied! Und ich halte es nicht aus, wenn ich es höre. Der Mann wollte es auch nicht hören. Das nicht, hat er gesagt, tu mir das nicht an. Er wusste, dass ich in ein Loch falle, wenn ich es höre. Er muss es gewusst haben. Er hat mich angeschaut, und er hatmir vergeben. Ich konnte es in seinen Augen lesen. Vater, vergib ihr! Sie weiß nicht, was sie tut.»
Sie schluchzte auf. «Oh, mein Gott! Vater, vergib mir! Ich habe euch doch alle geliebt. Dich und Mutter und … Ja, sie auch. Ich wollte nicht töten. Ich wollte nur leben, ganz normal leben.»
Sie riss die Augen wieder auf, funkelte ihn an und fuchtelte mit einem Zeigefinger vor ihm herum. «Merken Sie sich das: Es war allein meine Schuld. Gereon hat nichts damit zu tun. Und
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