Die Sünderin
ihrer Reaktion nach nicht zu sein, eher eine Leuchtrakete. Von einer Sekunde zur anderen erwachte sie zum Leben. Er sah, wie sie nach Atem rang, ehe sie ausstieß: «Lassen Sie mich doch in Ruhe mit dem Blödsinn! Denken Sie nach, Mensch. Ich kann überhaupt nichts gehört haben bei dem Krach. Wenn es so gewesen wäre, wie ich es Ihnen erzählt habe. Es war nicht so. Aber nehmen wir mal an, es wäre. Dann wären da fünf Leute gewesen und laute Musik. Ich weiß nicht, wie es sich anhört, wenn Rippen brechen. Aber so laut kann es nicht sein.»
Ihre Hände begannen zu zittern. Sie umklammerte dielinke mit der rechten. Er kannte das noch aus der Nacht. Es waren die ersten Alarmsignale. Oder – nach den bisherigen Erfahrungen mit ihr wollte er es lieber so bezeichnen – die Vorboten einer Wahrheit, mit der sie nicht konfrontiert werden wollte. Sein Verstand schaltete auf höchste Aufmerksamkeit, hob gleichzeitig mahnend den Finger: «Hör auf, Rudi. Überlass es den Ärzten.» Sein Herz holperte ein wenig.
«Sie sind ein …», fauchte sie heiser. Der treffende Ausdruck schien ihr zu fehlen oder war ihr vielleicht zu ordinär. Stattdessen erkundigte sie sich: «Finden Sie es eigentlich in Ordnung, was Sie machen? Sie laufen herum und belästigen seinen Vater. Das ist eine Unverschämtheit! Es muss schlimm für den armen Mann sein. Hat er noch mehr Kinder?»
Er schüttelte den Kopf und beobachtete ihr wechselndes Mienenspiel, das Reiben und Kneten der Hände. Ihre Stimme brach, die Schultern sackten nach unten, ihr Kopf ebenfalls. «Dann müssen Sie ihn in Ruhe lassen. Was passiert ist, ist passiert. Es ist keinem Menschen geholfen, wenn Sie herausfinden, dass ein Mädchen gestorben ist. Gut, es ist eins gestorben. Aber ich habe damit nichts zu tun. Ich habe nur den Mann auf dem Gewissen.»
Als sie den Kopf wieder hob und ihm ins Gesicht schaute, überlief ihn ein Frösteln. Da war etwas in ihrem Blick. Er brauchte ein paar Sekunden, eher er es einordnen konnte. Und er schaffte es nur, weil ihre Worte seinen Eindruck unterstrichen. Irrsinn!
«Einen unschuldigen Mann», sagte sie. «Und er wird nicht am dritten Tag auferstehen. Er wird schwarz werden, Würmer bekommen und wegfaulen. Wenn Sie seinen Vater unbedingt belästigen müssen, dann sagen Sie ihm, er soll ihn verbrennen lassen. Werden Sie das tun? Sie müssen es tun. Und Sie müssen mir etwas versprechen. Wenn es mich erwischt, eines Tages, ich will nicht verbrannt werden. Sorgen Sie dafür. Ich will ein anonymes Grab. Sie können mich auchbei einem Truppenübungsplatz ablegen. Legen Sie mich einfach neben das Mädchen.»
Truppenübungsplatz, dachte er. So hatte er es nicht bezeichnet. Aber er hakte nicht nach. Ihn fröstelte immer noch unter ihrem Blick. Das konnte doch nicht sein! Sie war völlig Herrin ihrer Sinne gewesen, bis zum Sonntagmittag aufgewühlt, zeitweise verwirrt unter dem Gewicht ihrer Tat und fest entschlossen, die Konsequenz zu ziehen, aber nicht verrückt. Und dass sie in den beiden Tagen den Verstand verloren haben sollte … Nein, das war unmöglich. Sie war nur am Ende.
Er wechselte das Thema, begann von ihrem Kind zu sprechen in der Hoffnung, damit so etwas wie Kampfgeist in ihr zu wecken. Ein Junge von zwei Jahren! Ob sie nicht auch finde, dass ein so kleines Kind seine Mutter brauchte?
«Wer braucht denn die Pest?», hielt sie dagegen.
«Niemand», sagte er. «Und es braucht auch niemand Würmer oder die Schwänze von Wölfen oder Tigern im Bauch. Es tut mir Leid, Frau Bender, ich hatte gehofft, wir beide könnten miteinander reden wie normale Menschen. Aber wenn Sie nicht können oder wollen, ich verstehe das. Ich bin wahrscheinlich auch nicht der richtige Mann für Ihre Probleme. Dafür sind Experten zuständig. In den nächsten Tagen kommt wohl einer.»
«Was heißt das?», wollte sie wissen. Und bevor er ihr antworten konnte, wurde sie heftig. «Ich will mit Experten nichts zu tun haben. Hetzen Sie mir bloß keinen Psychiater auf den Hals. Ich sage Ihnen was: Wenn so einer hier auftaucht!»
Was dann passieren sollte, erklärte sie nicht, brach mitten im Satz ab, wischte sich mit einem Handrücken über die Stirn und lächelte. «Ach, was rege ich mich denn auf! Ich muss doch mit keinem reden. Bestimmt nicht mit einem Psychiater. Hören Sie: Von mir aus können Sie mir ein DutzendWeißkittel herschicken. Aber sagen Sie ihnen, sie sollen sich ein Kartenspiel mitbringen, damit ihnen die Zeit nicht lang wird.»
Ihr
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