Die Sünderin
Angeblich wusste man nicht, wo der Sohn sich derzeit aufhielt. In Ghana, im Sudan oder im Tschad. Auch seine Bitte um eine Fotografie war abgelehnt worden. Wozu brauchte er die? Was lag vor gegen Ottmar Denner? Sein Gesprächspartner war ein kleiner, dicker Mann und energischer Vater gewesen, der seine Rechte kannte, die des Sohnes auch.
Und Rudolf Grovian hatte sich vorgestellt, er könne ihr einige Fotografien auf den Tisch legen, fünf oder sechs oder sieben. Er könne sie bitten, den kleinen Dicken herauszusuchen. Fehlanzeige! Aber so wie die Dinge standen, hätte sie wohl auch zu einem Foto nur den Kopf geschüttelt.
Über Hans Böckel hatten sie noch nichts in Erfahrung gebracht. Rudolf Grovian ging davon aus, dass Böckel derjenige war, der aus Norddeutschland stammte. Aber wenn Hans Böckel jemals Verbindung zu einem Haus in Hamburg gehabt hatte, gemeldet war er dort nicht gewesen. Und ein Studienfreund von Frankenberg konnte er auch nicht gewesen sein. Es gab keine entsprechende Einschreibung an der Universität.
Stattdessen gab es eine Erklärung von Georg Frankenbergs Vater. Mit der Mutter hatte Rudolf Grovian nicht reden können. Sie hatte einen Schock erlitten. Und Professor Johannes Frankenberg wusste mit den Namen Denner und Böckel nichts anzufangen. Das mit der Musik sei nur eine kurze Episodegewesen, eine Laune, die ein paar Wochen vorhielt. Georg habe damals rasch eingesehen, dass seine Zeit zu kostbar sei für Spielereien.
Und im Mai vor fünf Jahren hatte sich Georg Frankenberg daheim aufgehalten. In Vaters Privatklinik, wo er einen Armbruch kurierte. Gebrochen hatte sich Georg Frankenberg den Arm am 16. Mai, das ging aus den Unterlagen der Klinik hervor. Genau der Tag, an dem Cora Bender ihm – von ihrer ersten Version ausgehend, in die der Leichenfund so hübsch hineingepasst hätte – abends in einem Lokal in Buchholz näher gekommen sein wollte.
Nach den Angaben seines Vaters war Georg Frankenberg übers Wochenende heimgekommen, am Freitagabend eingetroffen, am Samstagmorgen unglücklich gestürzt. Doch Glück im Unglück, es war ein unkomplizierter Bruch, und es waren nur ein paar Meter vom Privathaus zu Vaters Klinik. Da musste man nicht einmal einen anderen Arzt bemühen.
Dem Staatsanwalt genügte die Aussage von Professor Johannes Frankenberg, um Cora Benders Rückzug als Besinnung auf die Wahrheit zu nehmen. Rudolf Grovian genügte es nicht. Ihn hatte der Zeitpunkt des Armbruchs förmlich elektrisiert. Unterlagen ließen sich manipulieren, wenn man Chef in der eigenen Klinik war und wusste, dass der Sohn Dreck am Stecken hatte. Ausgerechnet der 16. Mai! Ein anderes Datum hätte ihn kaum stutzig gemacht. Aber …
«Professor Frankenberg ist ein honoriger Mann», erklärte er ihr. «So leicht wird er nicht zu widerlegen sein. Wir können nur hoffen, dass Ottmar Denner und Hans Böckel Ihre Angaben bestätigen, wenn wir die beiden ausfindig machen.»
Bis dahin hatte sie nur zugehört, ihn zum Teufel gewünscht und ihn insgeheim bewundert für seine Hartnäckigkeit. Er machte vor nichts Halt, schreckte vor nichts zurück, nicht einmal davor, den Vater ihres Opfers zu belästigen.
Als er von dem silberfarbenen V W-Golf GTI sprach, war Panik aufgestiegen. Aber sie hatte sich rasch wieder beruhigt. Es musste ein Zufall sein, dass Johnnys Freund den gleichen Wagen gefahren hatte wie ein Freund von Georg Frankenberg. Es war eben ein typisches Junge-Männer-Auto. Der Chef schaute sie abwartend und aufmerksam an.
«Niemand kann Ihnen etwas bestätigen», sagte sie. «Ich habe Ihnen ein Märchen erzählt.»
Rudolf Grovian hatte ihre Stimme seit zwei Tagen nicht gehört. In seiner Erinnerung war sie noch fest, feindselig, kalt und gleichgültig wie vor dem Haftrichter. Der raue, völlig emotionslose Klang und ihre geduckte, in sich gekehrte Haltung mahnten zur Vorsicht.
Bedächtig schüttelte er den Kopf. «Nein, Frau Bender, Märchenfiguren legen keine Leichen in der Nähe eines militärischen Sperrgebietes ab. Ich habe das Mädchen gefunden, das mit Ihnen im Keller war. Ein totes Mädchen mit zwei gebrochenen Rippen, Frau Bender. Und Sie haben gehört, wie die Rippen brachen.»
Das hatte er sich für den Schluss aufgehoben, ein Schuss ins Blaue für den Fall, dass sie sich auf nichts einließ. Vielleicht nur ein kleiner Knallfrosch. Wenn sie tatsächlich erst im August und nicht schon im Mai … war die Leiche für ihn bedeutungslos. Aber ein Knallfrosch schien es
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