Die Sünderin
haben. Und er erinnerte sich nicht einmal mehr, wann er zuletzt Hand in Hand mit Mechthild gegangen war. Früher hatten sie oft davon gesprochen, was sie alles tun wollten, wenn die Tochter aus dem Haus war. Mal ein Wochenende ins Blaue, für ein paar Tage in den Schwarzwald oder an die Nordsee, bisher war nichts daraus geworden.
Ein bisschen abseits von ihm spielten ein Mann und ein kleiner Junge mit einem Ball. Der Junge war nur wenig größer als sein Enkel und trat den Ball ungeschickt in seine Richtung. Er fing ihn auf und warf ihn zurück. Der Junge lachte ihn an, und ihm fiel ein, dass seinem Enkel das Lachen bald verginge. Oder auch nicht!
Es war anzunehmen, dass Marita sich samt ihrem Söhnchen daheim einquartieren wollte, wenn ihre Ehe tatsächlich in die Brüche ging. Eine ernüchternde Erkenntnis, die vorübergehend alles andere in den Hintergrund drängte! Der häusliche Friede mit Füßen getreten. Nichts gegen ein paar Bauklötze im Wohnzimmer, nichts gegen ein bisschen Kinderlachen oder-weinen, aber die geruhsamen Abende auf der Couch wären Vergangenheit, wenn die Tochter wieder im Haus war.
Er sah es vor sich, so wie es früher gewesen war. Der Tisch im Wohnzimmer übersät mit Nagellack, Lippenstiften, Wimperntusche und dem anderen Mist, den sie sich ins Gesicht schmierte. Hundertmal, tausendmal hatte er verlangt, sie solle ihre Kriegsbemalung gefälligst im Bad auftragen. Aber nein! Da war angeblich das Licht zu schlecht, und Mechthild sagte: «Nun lass sie doch, Rudi. Ist das denn nötig, jeden Abend dasselbe Theater?»
Eine knappe Stunde später saß er in der Wohnung seiner Tochter, entschlossen zu retten, was zu retten war. Sein Schwiegersohn war nicht da. Und seine Versuche wurden abgeblockt mit: «Halt dich raus, Rudi, du hast keine Ahnung, worum es geht.»
Mechthild hielt den Jungen auf dem Schoß, sagte ein übers andere Mal: «Ja, aber wie soll das denn …» Weiter kam sie nie. Wie es denn sollte, hatte Marita bereits gründlich durchdacht. Von Heimkommen war nicht die Rede. Die geräumige Wohnung gegen ein Zimmer im Elternhaus, die Möglichkeiten der Großstadt gegen den kleinbürgerlichen Mief einzutauschen, danach stand ihr nicht der Sinn. Die finanzielle Seite warf keine Probleme auf, Peter müsste natürlich zahlen. Dreitausend im Monat, so stellte Marita sich das vor.
«Es gibt auch kleinere Summen», sagte Rudolf Grovian.
«Es gibt auch größere», sagte seine Tochter. «Und bei seinem Einkommen, da weiß er wenigstens, wofür er schuftet.» Danach vergaß sie seine Anwesenheit und sprach wieder ausschließlich zur Mutter. Es ging um grobe Vernachlässigung, um unüberbrückbare Gegensätze, um einen Mann, der nichts anderes im Kopf hatte als Bits und Bytes, Rams und Roms, das Internet und anderen Firlefanz, mit dem ein vernünftiges Gespräch nicht mehr möglich war, von einem unterhaltsamen Abend in einer Diskothek ganz zu schweigen.
«So ist das nun mal, wenn ein Mann arbeitet und es im Beruf zu etwas bringen will», sagte Mechthild lahm. «Da muss man als Frau hin und wieder eine Faust in der Tasche machen. Dafür hat man doch aber auch was vom Leben.»
Ja, Windeln, Kochtöpfe und zur Abwechslung einmal wöchentlich die Spielgruppe für Zweijährige. Rudolf Grovian konnte sich das nicht länger anhören, er zog unentwegt Vergleiche. Aber es gab keine. Seine Tochter und Cora Bender, das war wie Tag und Nacht, wie Feuer und Wasser. Die eine brauchte seinen Rat nicht, wollte nicht einmal wissen, wie er darüber dachte. Halt dich raus, Rudi. Was sollte ein Mann tun, wenn ihm privat ständig solche Grenzen gesetzt wurden? Ihm blieb doch nur, sich in die Arbeit zu stürzen.
Am Montagmorgen um acht tat er das, hatte am Abend eine längere Unterredung mit dem Staatsanwalt und bis Dienstag genug zusammengetragen, um sie noch einmal mit ihren Lügen zu konfrontieren und ein wenig an ihrer Mauer zu kratzen. Vorsicht hin, Rücksicht her. Er hatte sie herausgefordert und sie ihn. Sie war schuldig geworden, und jetzt war er am Zug. Das war sie ihm schuldig.
Es war später Nachmittag, als er die Zelle betrat. Er sah ihr Erschrecken bei seinem Anblick und erschrak ebenfalls. Die beiden Tage hatten sie in ein stumpfes Bündel verwandelt, das zu keiner Reaktion mehr fähig schien.
Er begann mit dem Kreiskrankenhaus in Dülmen. Das hatte ihn nur einen Anruf und ein bisschen Warterei am Telefon gekostet.
Mit Georg Frankenbergs Vater hatte er persönlich gesprochen, am vergangenen
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