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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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– das ist die Wahrheit. Ich komme drauf, dass bestimmte Dinge falsch sind, aber sonst geht es mir gut.«
    »Was meinst du damit: Bestimmte Dinge sind falsch?«
    »Dass man mit zunehmendem Alter alles vergisst – das ist zum Beispiel falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Manches steht plötzlich in einer Klarheit vor einem, dass es wehtut.«
    »Das hat vielleicht mit deiner neuen Brille zu tun.«
    Joachim grinste und nahm sie ab. »Ich weiß, sie ist hässlich«, sagte er, »aber bei Kunstlicht geht es nicht mehr ohne.« Seit einigen Tagen erinnere er sich zum Beispiel an jenen Moment, in dem er gleich am Anfang seines Imkerdaseins mit dem Varroamilbenbefall mehrerer Völker konfrontiert gewesen sei. Er sei vor den Stöcken gestanden, habe all die toten und deformierten Bienen gesehen und es habe ihm beinahe das Herz gebrochen. Oder die Sache mit dem jüngsten Wertzer-Sohn, der vor dem Hotel einfach auf sein Dienstmoped gestiegen und davongefahren sei. Zurückgekommen sei er mit einer riesigen Brandwunde an der Wade, heulend, er werde ihn, Fux, und die ganze Post anzeigen, denn der Auspuff des Mopeds sei mit Sicherheit nicht vorschriftsgemäß und er werde ihm Schmerzensgeld zahlen müssen und eine Invaliditätsrente. Der knapp sechzehnjährige Bursch habe dort auf dem Vorplatz des Hotels auf ihn eingebrüllt, von oben herab, und er selbst habe vor lauter Verblüffung kein Wort herausgebracht. Plötzlich sei das Eingangstor des Hotels aufgeschwungen, der alte Wertzer sei herausgestürmt, ein verhältnismäßig kleiner, untersetzter Mann, sei zwischen sie beide getreten und habe, ohne auch nur ein Wort zu sagen, seinem Enkel eine mächtige Ohrfeige verpasst, die klassische Kombinationsvariante, links-rechts, erst Handfläche, dann -rücken. Danach habe er, immer noch wortlos, mit ausgestrecktem Arm in Richtung Tor gewiesen, und der junge Mann sei abmarschiert, ohne das geringste Zögern, den Kopf gesenkt, die Finger des Großvaters im Gesicht.
    »Vor einigen Wochen noch waren diese Dinge völlig verschüttet«, sagte Joachim Fux, »plötzlich tauchen sie auf, und du weißt nicht, woher.«
    Horn legte den Löffel auf die Serviette und schraubte den Deckel aufs Glas. »Gab’s mit dem alten Wilfert eigentlich auch irgendwelche Erlebnisse?«, fragte er. »Wilfert?« – Fux starrte ihm für eine Sekunde erschrocken in die Augen, dann richtete er den Blick in den Raum, als müsse er nachdenken. »Sein Haus lag postmäßig nicht in meinem Zustellungsrayon«, antwortete er schließlich, »seine Tochter hat ab und zu Honig bei mir gekauft, wie viele andere Leute auch.«
    »Und Geschichten?«
    »Du meinst: über ihn?«
    Horn nickte. Fux nahm seine Brille ab und presste die Fingerkuppen gegen die Lider. Er wirkte plötzlich unendlich müde. Horn dachte an den Moment damals vor dem Schuppen. Der Tod ist ihm immer noch nahe, dachte er – ich hätte das bedenken sollen. »Wir können auch über etwas anderes reden«, sagte er hastig. Fux winkte ab.
    »Seine Frau ist vor nicht so langer Zeit gestorben«, sagte er leise, »plötzlich, an einer Thrombose oder so, die Tochter kümmert sich um ihn, der Schwiegersohn arbeitet im Sägewerk, ein paar Enkelkinder. Ein gewöhnlicher alter Mann, sagen die Leute.«
    »Nichts Besonderes?«
    »Er war Jäger. Aber das sind hier viele andere auch.«
    Cejpek war Jäger, fiel Horn ein, und auch Martin Schwarz, sein Nachbar, ging manchmal auf die Jagd. Tobias sagte, alle Jäger gehörten an Bäume gefesselt und den wilden Tieren ausgesetzt, und, wenn er älter und gefestigter sei, werde er hundertprozentig Vegetarier werden. Meine Liebe zu meinem Sohn zeigt sich zwar momentan vorwiegend in Kopfnüssen, dachte Horn, aber jede echte Vater-Sohn-Liebe tut das in einem bestimmten Stadium ihrer Entwicklung.
    Horn ließ sich zwei Gläser von dem neuen Waldhonig geben und ein Glas von einem beinahe weißen, cremig gerührten Rapshonig, den Irene gern mochte. Joachim verpackte die Gläser sorgfältig in Seidenpapier und lehnte am Ende eine Bezahlung ab, wie immer. Horn wusste inzwischen, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren, und steckte die Geldbörse wieder ein.
    »Was ist die Varroamilbe?«, fragte er im Hinausgehen. »Etwas, das dir im Nacken sitzt, dich aussaugt und zum Krüppel macht«, sagte Joachim Fux. Er schien immer noch erschöpft.
    »Mich?«
    »Sofern du eine Biene bist, ja.« Sie schauten einander an. Horn lachte.
    Als Raffael Horn in Richtung Zentrum ging und ab und zu die Atemluft vor

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