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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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gelegene der beiden Schuppen bei jedem größeren Hochwasser überflutet wurde. Daher befand sich in seinem Inneren auch nichts anderes als ein Stoß alter Ziegel und Dachplatten. Joachim hatte ihm vor Jahren einmal alles gezeigt. Auf die Frage, warum er ihn nicht abreiße, hatte er gesagt: »Weil er immer schon da war.« Horn lehnte sich ans Bohlengeländer der Brücke. Der Bach hatte in diesem Bereich ganz wenig Gefälle. Von den Granitblöcken der Randregulierung ragten Eiszungen aufs Wasser hinaus. Mein ganzes Leben ist ein einziges Stadt-Land-Spiel, dachte er – hin und her und nirgends fühle ich mich zu Hause.
    Der Geruch von Zimt schlug ihm entgegen, als er die Haustür öffnete. Else buk für jeden Anlass, darauf konnte man sich verlassen, zuletzt vermutlich Tonnen für Weihnachten, jetzt für Silvester.
    Die beiden saßen am Esstisch und sortierten Fotografien. Horn zog schnuppernd die Nase kraus. »Rotweinkuchen mit Zimt«, sagte Else und erhob sich, »machst du Krankenbesuche?« Horn lachte. »Ja, ich gehe von Haus zu Haus und behandle die Post-Festum-Depressionen.« Sie stellte ihm einen Stuhl hin. Sie ist fünfundsiebzig und immer noch eine schöne Frau, dachte er.
    Joachim schob die Fotos zusammen. »Lass nur, ich bleibe nicht lange«, sagte Horn. Er griff nach einem der Bilder. Ein paar Soldaten, junge Burschen in Uniformen, die ihnen zu groß waren. »Es ist erstaunlich, dass Fotografien mit dem Alter tatsächlich gelb werden«, sagte er. »Die Haut wird gelb und Fotos werden es auch«, erwiderte Joachim knapp. Die Soldaten auf dem Foto sahen alle gleich aus. »Wer ist das?«, fragte Horn.
    »Ich bin 1945 eingerückt«, sagte Joachim. Zwei der Soldaten sahen einander besonders ähnlich, beinahe wie Zwillinge. Sie wirken alle gleich unglücklich, dachte Horn. Ganz vorne stand einer, bei dem man das Gesicht nicht mehr erkennen konnte. An seiner Stelle befand sich ein weißer Fleck, so, als sei oft hingegriffen worden. Er ist es selbst, dachte Horn, er betrachtet das Bild immer wieder und er tappt jedes Mal mit dem Finger auf sein Gesicht, als müsse er sich vergewissern, tatsächlich dort gewesen zu sein. Im Lauf der Zeit löscht er sich auf diese Weise aus.
    Horn wies auf den Mann. »Und der da bist du?«, fragte er.
    Joachim Fux nahm hastig die Fotografien und steckte sie in die Schachtel zurück, die auf dem Tisch stand. »Es war damals nicht schön«, sagte er. Seine Hand zitterte. Ich habe ihn gestört und überfordert, dachte Horn, er will nicht reden und er möchte die Bilder nicht herzeigen.
    »Geht sich das zeitlich überhaupt aus?«, fragte er vorsichtig. Joachim schaute ihn an. Er war bleich geworden und seine Kiefermuskeln waren angespannt. Er nickte kaum merklich.
    »Ich bin siebenundsiebzig. Damals war ich siebzehn.«
    Siebzehn. Ein Kind. Manchmal gibt es wirklich nichts zu sagen, dachte Horn. Er glaubte ihm, dass es damals nicht schön gewesen war, er konnte den Wunsch, sich aus dieser Zeit wegzulöschen, verstehen; er wusste, dass posttraumatische Symptome noch nach Jahrzehnten auftreten konnten, auch mit Vehemenz.
    Else stellte ihm einen Teller mit Weihnachtskeksen hin. Er drehte die Augen über. »Du musst nichts nehmen«, sagte sie, »man macht das automatisch, wenn jemand auf Besuch kommt.«
    »Wie geht es deiner Schulter?«, fragte Horn. Er wollte weg von diesen Kriegsgeschichten. Joachim streckte den rechten Arm langsam nach vorne, ballte die Finger zur Faust und streckte sie wieder.
    »Besser?«
    »Ein wenig.«
    Horn behandelte Joachim Fux seit einigen Monaten wegen eines Schulter-Arm-Syndromes, das genauso hartnäckig war, wie Schulter-Arm-Syndrome zu sein pflegten. »Ich dilettiere in Neurologie«, sagte er und Joachim sagte, das sei ihm egal, er denke nicht daran, einen anderen Arzt an sich heranzulassen. Zuletzt hatte ihm Horn ein Corticoiddepot in den oberen Pol des Deltoidmuskels verpasst und gesagt, wenn das nicht helfe, bleibe nur noch die alte Limnig aus Waiern mit ihren Kieselsteinen und dem Pendel. Horn tastete den Oberarm ab. Das Medikament tat offenbar seine Wirkung. Die Druckschmerzhaftigkeit hatte abgenommen. An der Hinterseite der Schulter gab es noch ein kleines berührungsempfindliches Areal. »Du bist ein harter Knochen«, sagte er. Joachim erhob sich, schaute ihn an und antwortete nicht. Er war einen halben Kopf kleiner als Horn, drahtig und braungebrannt. Er stand in der Regel leicht gebückt und nach rechts verdreht da, etwas, das verschwand, sobald er sich

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