Die Süße Des Lebens
Charlotte, ihrer Tochter, war es keine Spur anders gewesen. Insofern war es nur folgerichtig, dass die beiden jetzt mit Yvonnes neuem Mann in Traun bei Linz wohnten, in einer Gegend, in der es weit und breit kein größeres Gewässer gab.
Er griff in seine Jacke und tastete nach dem Druckbleistift, den er immer bei sich trug. Früher hatte er sich damit zu jedem Fall, den er bearbeitete, Notizen gemacht, in ein dickes DIN-A6-Heft mit orangefarbenem Umschlag. Als er eines Tages Bitterle und Demski dabei ertappte, wie sie über seinem Heft die Köpfe zusammensteckten und lachten, hatte er es zu Hause gelassen. Ab und zu schrieb er noch auf Servietten oder Tischplatten, zeichnete Schemata oder führte sich Begriffe unmittelbar vor Augen. Meistens jedoch genügte der Stift in seiner Hand, um seine Gedanken in eine Struktur zu bringen.
Die Autoeinbruchsserie, die es seit Ende November gab, war relativ klar. Immer nachts, immer nah an einer Ausfallstraße – in einer der Seitengassen oder in der ersten Parallelstraße. Diese Leute kamen abends, schauten, in welchen Autos Dinge herumlagen, Kleidung, Taschen, Elektronikzeugs, und knackten einige Stunden später die Schlösser. Sie waren höchstwahrscheinlich in einem Wagen mit gestohlenem Kennzeichen unterwegs, kamen aus Rumänien oder Moldawien und operierten von einer Organisationszentrale aus, die man noch nicht geortet hatte. Sie bevorzugten die mittelgroßen Städte im Süden und Osten des Landes: Wiener Neustadt, Krems, Steyr, Bruck an der Mur, Villach, Furth. Sie arbeiteten extrem rasch und hinterließen keine verwertbaren Spuren. Man phantasierte darüber, wie sie reagieren würden, käme ihnen jemand in die Quere; in Wahrheit wusste man es jedoch nicht, denn es war noch nie passiert. Im Grunde interessiert mich das alles nicht, dachte Kovacs, der Streifendienst soll seine Arbeit tun, und die Empörung von Leuten, die ihre Laptops im Auto liegen lassen, habe ich schon gefressen.
Er merkte, wie das Bier kälter wurde, steckte den Stift weg und zog den Handschuh über. Es ist mir komplett egal, wenn mir jemand zusieht, dachte er. In bestimmten Lebenslagen haben einem die anderen egal zu sein.
Auf der Uferpromenade bewegten sich mehrere kleine Gruppen von Menschen, darunter ein Jogger-Paar. Die Sonne stand eine Handbreit über dem Scheitel der Kammwand und tauchte den Großteil der Stadt in ein weißgelbes, flirrendes Licht. In etwa einer Stunde würde der Schatten kommen.
Die Terrassentür hinter seinem Rücken ging auf. Kovacs erschrak ein wenig. Es war Lefti. Er trug einen Stuhl vor sich her, stellte ihn an den Tisch und setzte sich. Er hatte sich einen dicken graubraunen Pullover und fingerlose Wollhandschuhe übergezogen. »Genial«, sagte Kovacs, »du isst offenbar regelmäßig im Freien, wenn es friert.« Lefti lachte. Hinter ihm kam Szarah mit zwei großen Porzellannäpfen samt Löffeln und einer Flade Weißbrot heraus. Sie grüßte Kovacs mit einem dezenten Nicken. Sie ist eine Göttin, dachte er, nicht direkt schön, aber sie trägt eine Klugheit in ihrem Gesicht und eine Autonomie in ihrer Gestalt, dass es dich einfach umhaut. »Was ist das?«, fragte er. »Rote-Linsen-Suppe«, sagte sie. Sie stellte die Schalen ab, flott und doch vorsichtig. Dann verschwand sie wieder.
»Bismillah«, sagte Lefti. »Mahlzeit«, antwortete Kovacs. Die Suppe schmeckte nach Chili, Kreuzkümmel und Zimt. Lefti tunkte sie mit Brot auf und verwendete seinen Löffel kaum.
»Woher weißt du immer, was ich gerade brauche?«, fagte Kovacs.
»Diesmal war es nicht so schwer. Was soll ein Kommissar, der im Winter auf der Terrasse sitzt, schon brauchen? Außerdem war das mit der Suppe Szarahs Idee, nicht meine.«
Er springt über seinen Schatten, dachte Kovacs, und er vertraut mir. »Du hast Glück mit deiner Frau«, sagte er.
»Ja, mit ihr und meinen Töchtern und mit dir, Kommissar.«
»Eure orientalische Höflichkeit geht mir manchmal ziemlich auf die Nerven.«
»Du hattest weniger Glück mit deiner Frau und deiner Tochter, warum soll ich nicht höflich sein?«
Kovacs sagte eine Weile gar nichts. Er dachte an die Kälte Yvonnes und an Charlotte, die mit der Zeit immer mehr wie ein Kartoffelsack geworden war, unförmig und passiv. Ich habe nie etwas anfangen können mit ihr, das ist die Wahrheit, dachte er, mit Yvonne zumindest eine Zeit lang. Er erwischte ein größeres Stück Chilischote und spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Lefti sah es. »Sorry,
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