Die Süße Des Lebens
begeisterte Erlebnisberichte seiner Kunden zu lesen, dass auch die Stadtgemeinde letztlich auf eine Korrektur verzichtete.
Ich forsche von Berufs wegen nach den sogenannten Fakten, dachte Kovacs, und in Wahrheit wollen die Menschen betrogen werden. Man enscheidet sich ständig für das Falsche.
Auf dem Promenadenweg hatte das Streusalz die Reste von Schnee und Eis vom Pflaster gefressen. Tauglich für jede Form der Gehbehinderung, dachte er, irgendwann werde ich mich vielleicht darüber freuen. Er schritt in Richtung Süden, vorbei am Bootsverleih, an der Auffahrtsrampe zum Wertzer und an der Anlegestelle des Linienschiffes nach Sankt Christoph und Mooshaim. Knapp vor dem Jachthafen trat er in den Schatten des Berges. Augenblicklich kam Wind auf. Er zog sich die Mütze über die Ohren. Auf dem äußersten Ende der Mole saßen bewegungslos fünf, sechs Möwen. Jedes Jahr blieben einige der Vögel den Winter über hier. In irgendeiner Weise fühlte er sich ihnen verwandt.
Er ging den gesamten Ostbogen entlang, ein Stück über das Ende des Asphaltes hinaus, bis an jene Stelle, an der der Fürstenaubach in einem Wasserfall in den See mündete. Er stand dort auf der Brücke und blickte auf die Stadt zurück.
Die Sache mit dem alten Mann war noch nicht vom Tisch. Obwohl er das Gefühl hatte, es werde eine rasche Klärung geben. Zum Beispiel, dass der Schwiegersohn mit diesem alten grünen Steyr-Traktor gefahren war und auf dem Hecklader Brennholz für den Kachelofen geladen hatte. Da es sich nur um eine kurze Strecke handelte, hatte er die Scheite nicht ordentlich fixiert gehabt und immer wieder nach hinten geschaut, ob sie auch nicht ins Rutschen kämen. Auf diese Weise hatte er den Alten übersehen. Aus. Ungefähr so einfach würde es sein. Dass der Kopf des Mannes dramatisch ausgesehen hatte, war nicht weiter verwunderlich, denn mit ziemlicher Sicherheit sah jeder Kopf, über den ein Traktor gefahren war, dramatisch aus. Ihm fiel Mauritz ein, der vor sich hin geflucht hatte, weil im Schnee die Blutverspritzungen kaum verwertbar waren und diese Reifenspuren alles noch unübersichtlicher gemacht hatten. Und Sabine Wieck fiel ihm ein, wie sie neben ihm hergegangen war, bleich im Gesicht und trotzdem entschlossen, und wie ihr die Uniform ein gutes Stück zu groß gewesen war. Er würde sie in seine Gruppe holen; sie hatte genau jene Art von Energie und Gier nach der Wahrheit, die er mit knapp dreißig auch gehabt hatte. Und sie gefiel ihm. So eine Tochter hätte ich gern, dachte er, sie hat nichts von einem Kartoffelsack, rein gar nichts. Ich werde Mauritz anrufen, dachte er, vielleicht hat er schon Ergebnisse. Er hasst es zwar, am Wochenende gestört zu werden, doch ich hasse es, wenn ich gar nichts in der Hand habe. Außerdem hasse ich es, dachte er, wenn um drei Uhr nachmittags die Dämmerung hereinbricht, sodass einem nichts anderes übrig bleibt, als nach Hause zu gehen.
Er hörte das Knallen schon von weitem. Es war jedes Jahr das gleiche. Einige Tage vor Silvester rotteten sich die Jugendlichen des Viertels zusammen, auch jene, die sonst ein ganzes Jahr nichts miteinander zu tun haben wollten, und begannen ihre Arsenale von Böllern, Krachern und Raketen zu verschießen. Mit den großen Mitternachtsfeuerwerken konnten sie ohnehin nicht konkurrieren, wenn sie aber ihr Zeug vor der Zeit abbrannten, waren ihnen die Reaktionen gewisser Anwohner sicher. Es würde auch dieses Jahr einige Anzeigen geben, die Kollegen würden ausrücken, die üblichen Verdächtigen wegen Ruhestörung abmahnen und zumindest eine Beschlagnahmung auf Grund von Nichteinhaltung des Pyrotechnikgesetzes vornehmen – damit beruhigte man zum Beispiel Alexander Koesten, den Architekten, der schräg unterhalb von Kovacs wohnte.
Auf der Brüstung des langen rechteckigen Brunnenbeckens hockten sieben oder acht Jugendliche. Als sie Kovacs kommen sahen, machten sich die meisten aus dem Staub. Lediglich Matthias Fries, ein blassgesichtiger rothaariger Siebzehnjähriger, der von sich behauptete, er trage grundsätzlich nur gestohlene Sachen, und Sharif Erdoyan, ein unfasslich fetter Türke, der von allen ›Sheriff‹ genannt wurde, blieben sitzen. Sie kifften, eindeutig. »Tag, Kommissar, wie geht’s so?«, sagte Erdoyan und versuchte ernst dreinzuschauen. »Tag, Sheriff«, antwortete Kovacs, »sehr nett, dass du fragst.«
»Irgendwie ist man für das Wohl seiner Nachbarn verantwortlich.«
»Da hast du recht. Wie groß ist übrigens der
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