Die Süße Des Lebens
tippte die Nummer ein. Sie hatte das Handy auf Mailbox gestellt. »Ruf mich an«, sagte er, mehr nicht.
Er ging in die Küche, stellte Wasser auf und gab getrocknete Pfefferminzblätter und einige Stück Kandiszucker in den Einsatz der Teekanne. Auch das hatte er von Lefti: Pfefferminztee statt dem Nachmittagsschnaps. Ich verkomme zum Orientalen, dachte er. Andererseits waren seine Kopfschmerzattacken eindeutig seltener geworden, seitdem er sich an diesen Grundsatz hielt.
Der Himmel war klar geblieben. Aus dem Küchenfenster konnte er im Südwesten die blassrote Abendfärbung erkennen. Bald würden die ersten Sterne auftauchen. Das Fernrohr stand neben dem Bett, er hatte es in letzter Zeit nicht mehr weggeräumt. Diesmal würde er aufs Dach steigen, sich Zeit nehmen und es ordentlich justieren. Er würde im Zenith zu schauen beginnen, dort stand um diese Jahreszeit Andromeda. Wie immer würde er M 31 suchen und sich wie immer darüber ärgern, dass man die Spiralstruktur des Nebels auch bei äußerster Vergrößerung nicht ausnehmen konnte. Dann würde er nach Osten schwenken und erst einige seiner Lieblingsobjekte aufsuchen, Capella im Fuhrmann zum Beispiel oder Aldebaran im Stier. Natürlich hatte es ihn gestört, als Eleonore Bitterle gespottet hatte: »Mein Chef ist zum Sterngucker geworden«, und natürlich war es ihm nicht egal gewesen, dass ihn auch die anderen Kollegen ständig auf der Schaufel hatten. Doch als er dann auf Stracks Frage, wozu es denn eigentlich gut sei, stundenlang durch so ein Rohr zu starren, gesagt hatte: »Ich suche Gott, dazu ist es gut«, hatten schlagartig alle den Mund gehalten, ein für alle Mal.
Der Triumphmarsch aus ›Aida‹, leicht gedämpft. Er musste sich kurz orientieren. Das Handy steckte in der Innentasche seiner Jacke, draußen an der Garderobe. Er brauche einen martialischen Klingelton, hatte er damals befunden, und Demski war ihm beim Herunterladen behilflich gewesen. Er klappte das Ding auf. »Ich hoffe, es irritiert dich nicht zu sehr, aber Silvester wird anders, als du es geplant hast«, sagte er. »Da bin ich aber sehr traurig«, antwortete die Stimme am anderen Ende. Es war definitiv nicht die von Marlene. »Dass Sie traurig sind, tut mir leid«, sagte er, »wer sind Sie?« Am Display war eine Festnetznummer zu sehen, die ihm bekannt vorkam.
»Aber Herr Kommissar!?«
Der süffisante Ton, die leicht schweizerische Färbung. – Es war Patrizia Fleurin, die Gerichtsmedizinerin. Sie war seit Jahren für den Bezirk zuständig, pflegte ihre Sektionen nach Möglichkeit an der Pathologie des städtischen Krankenhauses vorzunehmen und verschickte Leichen nur in besonderen Fällen ans Universitätsinstitut in der Wiener Sensengasse. Zum Leidwesen der Pathologiegehilfen liebte sie unkonventionelle Arbeitszeiten. »Da ich nicht glaube, dass Sie mich privat anrufen würden, Frau Doktor, schätze ich, dass Sie am Seziertisch stehen«, sagte er.
»Ganz genau«, antwortete sie, »ich würde es tatsächlich nicht wagen, Sie privat anzurufen.« Vor ihr liege da jemand, ein alter Mann, der früher einmal einen Kopf gehabt habe. Am unteren Ende dieses ehemaligen Kopfes gebe es etwas Bemerkenswertes. Sie glaube, er solle es sich ansehen.
Acht
Ich schlafe nur noch in meinem schwarzen Umhang. Die Maske liegt neben dem Bett auf dem Boden. Daniel hat mir die Sachen geschenkt. Er sagt, sie haben eine Menge Geld gekostet, aber er hat unerschöpfliche Reserven. Unsere Mutter meint, er klaut wahrscheinlich, aber beweisen kann sie es nicht, und unser Vater sagt, wenn er ihn dabei erwischt, hackt er ihm die Hand ab. Unser Vater ist der größte Autohändler weit und breit und verkauft Jaguars und Rolls-Royce und Range Rovers, und einmal hat er bei einer Jagd einem anderen ins Bein geschossen, aber das war ein Unfall. Unlängst hat er dem jungen Stuchlik einen Dodge Viper verkauft. Dabei hat er den ärgsten Schnitt seines Lebens gemacht, obwohl er ihm zwölf Prozent nachgelassen hat. Er ist im Wohnzimmer gesessen und hat die ganze Zeit vor Lachen gebrüllt. Daniel sagt, wenn unser Vater stirbt, wird er den Laden übernehmen, aber nur ganz kurz, und dann wird er ihn verkaufen und ein Schweinegeld dafür kriegen.
Im Haus ist es total still. Das ist am Sonntagvormittag immer so. Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich das Dach der Montagehalle, darüber diesen Hügel, der aussieht wie das spitze Ende einer Zitrone, und noch einmal darüber den Himmel.
Ich gehe in die Speisekammer und
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