Die Süße Des Lebens
schneide mir ein Stück von dem Marmorkuchen ab, den unsere Mutter gestern aus der Konditorei gebracht hat. Sie selbst kann nicht kochen oder backen oder so. Sie sagt, ihre eigene Mutter war ein Versager und hat ihr das nie beigebracht. Eigentlich würde ich mir gerne einen Kakao machen, aber da geht dann bestimmt etwas schief und alle wachen auf, also lasse ich es bleiben.
Der Kühlschrank in der Küche brummt. Wenn niemand anderer da ist, bleibe ich einfach stehen und warte, bis er wieder aufhört. Ich schaue dabei dem roten Sekundenzeiger der Wanduhr nach. Drei Minuten und einundzwanzig Sekunden. Nicht einmal so lange wie eine kleine Schulpause. Und schon ist alles wieder optimal kalt, das Mineralwasser und die Milch und die Weihnachtswurst mit dem Tannenbäumchen oder der Glocke auf der Schnittfläche. Daniel sagt, drinnen hat es diese Wurst auch gegeben, an den allerletzten Tagen, und eigentlich findet er sie grässlich, denn in Wahrheit ist sie stinknormale minderwertige Extrawurst, nur dass die Bäumchen oder Glocken dunkler eingefärbt sind als das Drumherum. Daniel sagt, geschmacklich gibt es keinen Unterschied zwischen den hellen und den dunklen Teilen.
Meine Kleider sind vorbereitet. Die Handschuhe, das Stirnband. Auch die Stiefel im Vorzimmer. Den Umhang trage ich unter der Jacke. Ich habe einen Auftrag.
Daniel hat mir noch etwas geschenkt. Es ist schwer. Ich versuche es in den Hosenbund zu stecken, doch das geht nicht. Ich nehme daher meinen Rucksack.
Daniel hat gesagt, ich darf mir das erste Ziel aussuchen. Es ist eine Probe. Der Vader braucht auch einige Zeit, bis er dort angekommen ist, wo er hingehört. Daniel sagt, erst wenn man die Sachen tut, weiß man, dass man sie kann. Er sagt, erst wenn man etwas kann, kann man sich auch wehren, und er sagt, das ist das Einzige, das sich im Leben wirklich lohnt: sich zu wehren.
Es ist halbhell und kalt. Das Erste, was passiert, ist, dass mir die Reithbauer mit ihrem ausgefressenen Collie-Mischling über den Weg läuft. Dieses absolut angeschissene Gesicht und dann zwangsläufig die Frage: »Na, wo gehst du denn schon hin in aller Herrgottsfrühe?« Ich lächle wie C3PO und sage: »In die Kirche«, und sie sagt: »Stimmt, es ist Sonntag, da bist du aber früh dran«, und ich sage: »Vorher ist eine Seelenmesse«, und sie fragt: »Für wen?«, und ich sage: »Ich weiß nicht, für wen.«
Ich gehe die Ettrichgasse nach vorne bis zum Zeitungskiosk. Die dunkelgrünen Rollläden sind herabgezogen. Ich biege in die Lorenzgasse ein. Rolands Haus erkennt man ganz leicht an diesem roten Postkasten, der aussieht wie die Postkästen in amerikanischen Filmen. Roland behauptet, sein Vater ist früher einmal mit dem Motorrad durch Amerika gefahren, von daher kommt der Postkasten. Ich glaube ihm kein Wort, aber das ist jetzt egal. Roland ist eine verlogene Drecksau, das weiß ich seit der Kino-Geschichte. Daniel sagt, wenn dich einer anlügt, dann haust du ihm entweder gleich eine in die Fresse oder du erklärst ihn innerlich für tot, das hilft auch. Momentan ist Roland mit seinen Eltern und seiner unnötigen Schwester jedenfalls im Zillertal Schi fahren und das ist genauso gut. Seine Großmutter, die auf das Haus schaut, wohnt in Mühlau, und da ich ihr Auto nirgendwo sehe, wird sie auch nicht da sein.
Über einen Fußweg, der zwischen dem zweit- und drittnächsten Haus verläuft, gelange ich auf die Rückseite der Siedlung. Ich gehe in umgekehrter Richtung den Zaun entlang und klettere bei einem alten Kirschbaum drüber. Ich habe einen Auftrag. Daniel sagt, wenn man sich nicht wehrt gegen dieses Schwulen- und Lesben- und Kanakenpack, wird man eingesackt. Er weiß das auch von drinnen, sagt er und außerdem sagt er, dass derjenige, der sich wehrt, zuallererst ein Zeichen setzen muss.
Das Biotop ist zugeschneit, das Schilf daneben beinahe zur Gänze geknickt. An einer der Rosenkugeln fehlt ein Stück, zirka so groß wie meine Handfläche. Roland hat es mit seiner Steinschleuder herausgeschossen, aber das weiß niemand außer mir. Ein ziemlich genialer Streifschuss übrigens, jeder andere hätte die Kugel völlig zerstört.
Der Schlüssel zum Gartenschuppen liegt unter einer alten Ziegelplatte oben auf dem Holzstoß. Jeder Trottel würde ihn dort finden.
Die Kaninchen und Meerschweinchen hüpfen in ihren Käfigboxen nervös hin und her, als ich eintrete. Ich mache die Tür hinter mir zu und setze mich auf einen alten Gartenstuhl. Ich erzähle ihnen die Geschichte
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