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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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»Drinnen tut sich nichts«, sagte er. Manchmal passierten drinnen die entscheidenden Dinge, wenn man draußen nichts hörte. Horn sagte das nicht, denn Hrachovec war im Großen und Ganzen in Ordnung.
    Die anderen hockten im Sozialraum. Lili Brunner rauchte, Lydia presste einen Eisbeutel gegen ihr rechtes Auge und Christina, die man offenbar ebenfalls vorzeitig herbeigerufen hatte, ordnete die Tagesmedikationen in die Tablettendispenser. Lydia versuchte zu lächeln, als Horn ihr Gesicht begutachtete. »Der Ellbogen?«, fragte er. Sie nickte. Es hatte sie direkt am Jochbein erwischt. Die Schwellung reichte ins Unterlid hinein und die violette Verfärbung war bereits zu sehen. Leithner würde bei der Morgenbesprechung sagen: »Dafür bekommen die Leute, die auf I 23 arbeiten, ihre Erschwerniszulage.« Er konnte ihn jetzt schon hören und sah jetzt schon sein einfältiges Grinsen vor sich. »Gehen Sie nach Hause«, sagte er. Lydia schüttelte den Kopf. »Ich will sehen, wie die Geschichte ausgeht.« Horn ertappte sich immer wieder bei der Vorstellung, Lydia sei die Älteste von fünf oder sechs Geschwistern und die Mutter habe arbeiten gehen müssen und sie habe von Kindheit an auf die Kleinen aufgepasst, und das Ganze in einem Vorort von Santiago. Das Pathos dieser Vorstellung ist so überzeugend, dachte er, dass ich es vermeide, sie zu fragen, wie es wirklich war.
    Lili Brunner legte ihm Frau Webers Medikationsliste vor und erzählte, die ganze Sache habe offensichtlich damit begonnen, dass am Nachmittag der Ehemann auf Besuch gekommen sei und die Tochter bei sich gehabt habe. Frau Weber habe sich von Anfang an geweigert, das Kind auf den Arm zu nehmen. Der Mann habe die Kleine gewiegt, ab und zu etwas zu seiner Frau gesagt und am Ende nur hilflos geheult. Sie selbst scheine sich von Minute zu Minute intensiver bedroht gefühlt zu haben, sei anfangs noch phasenweise ihrem Mann gegenübergesessen, zwischendurch bereits immer wieder aufgesprungen und zur Tür gerannt. Am Ende habe sie nur noch große Kreise um die beiden gezogen, mit weit aufgerissenen Augen, ohne ein Wort zu sprechen. Als der Mann mit dem Kind schließlich gegangen sei, sei es für eine Beruhigung offenbar zu spät gewesen.
    Die Stationstür wurde aufgestoßen. Lydia zuckte heftig zusammen. »Wollen Sie nicht doch nach Hause gehen?«, fragte Horn. »Gleich«, sagte sie. Sie zitterte.
    Der Schlosser war ein untersetzter, kurzatmiger Mann mit rotem Gesicht. In die Bewegung, mit der er den Werkzeugkoffer abstellte, schien er seinen ganzen Unmut darüber zu legen, dass man ihn um diese Tageszeit herbeigerufen hatte. Christina erhob sich langsam. »Wir alle werden unter anderem dafür bezahlt, dass ab und zu unvorhergesehene Dinge passieren – Sie auch, denke ich«, sagte sie. Sie war in ihrer Kommunikation manchmal genauso kantig wie in ihrer Physiognomie. Horn bewunderte das.
    »Aufbrechen«, sagte der Schlosser, nachdem man ihm die Situation geschildert hatte – wenn innen der Schlüssel tatsächlich stecke, bleibe keine andere Möglichkeit. Im Moment gehe das allerdings nicht, denn man brauche dazu schweres Gerät, Brechstangen zumindest, und die habe er nicht dabei. »Am besten rufen Sie gleich die Feuerwehr«, sagte er.
    Ein einziges Mal, vor mehr als sechs Jahren, hatten sie eine Tür aufbrechen müssen. Willy Röder, ein persönlichkeitsgestörter Langzeitjunkie, hatte Martha, der damaligen Ambulanzschwester, den Zentralschlüssel geklaut und sich im orthopädischen Untersuchungszimmer eingeschlossen. Dort hatte er dann mehrere Male »Ich bringe mich um!« gebrüllt und sich einen Schuss gesetzt, der dafür vermutlich bei weitem ausgereicht hätte. Horn hatte es schon damals gehasst, Dinge kaputtzumachen, und er hatte schon damals das Wort ›aufbrechen‹ gehasst. Am Ende hatte er sich jedenfalls geschworen, nie wieder selbst das Brecheisen in die Hand zu nehmen, erst recht, als Röder kurze Zeit später an einer Hepatitis gestorben war.
    »Wer hat zuletzt versucht, mit ihr zu sprechen?«, fragte er. Hrachovec hob den Zeigefinger. »Ich«, sagte er.
    »Und?«
    »Ich habe gesagt: Das hat doch keinen Sinn, Frau Weber, und so weiter, und sie hat nicht geantwortet.«
    »Wann ungefähr war das?«
    Hrachovec schaute auf die Uhr. »Vielleicht vor einer halben Stunde«, sagte er.
    Horn lehnte an der Wand, sein Blick wanderte den Gang entlang. Der hintere Teil der Station lag vollkommen im Dunkeln. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Ein knapp zwei

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