Die Süße Des Lebens
nach dem Schläfchen und nach dem Spaziergang. Die Sache war gemächlich und ein wenig routiniert abgelaufen und mittendrin hatte er gedacht: Das sind die wunderbarsten Brüste dieser Welt, daran konnte er sich genau erinnern. Er hatte Marlene im selben Moment ins Gesicht geschaut, aber sie hatte die Augen geschlossen gehabt.
Eine Weile davor waren sie die Ache entlang flussabwärts gegangen, vorüber am Rafting-Camp, bis an jenen Punkt, an dem der Auwaldstreifen ganz schmal wurde und die Gefällestrecke begann. Marlene hatte davon erzählt, dass der Umsatz im Geschäft seit einigen Monaten wieder stieg, nicht dramatisch, aber kontinuierlich, und dass die Wirtschaftskammer, die ihr Unterstützung bei der Anmietung eines zusätzlichen Lagerraumes zugesagt hatte, plötzlich so tat, als wisse sie nichts mehr davon. Er hatte gesagt: »Es ist ganz einfach: Die Menschen werden wieder ärmer, daher kaufen sie gebrauchte Sachen«, und sie hatte genickt. Zur Wirtschaftskammer war ihm nichts eingefallen. Als sie umgekehrt waren, hatte er in die Berge im Südosten geblickt. Über den Firstlinien war der Himmel strahlend gelb gewesen, daran konnte er sich auch erinnern.
Die Anspannung hatte ihn erst überfallen, als er wieder allein in seiner Wohnung gewesen war. Er hatte sich vor ein Blatt Papier gesetzt, sinnlose Kringel draufgemalt und ständig den klaffenden Hals Sebastian Wilferts vor sich gesehen. Schließlich hatte er einen einzigen Satz hingeschrieben: Ein Rechtshänder schneidet einem alten Mann die Kehle durch. Er hatte sich den Satz mehrmals laut vorgelesen und am Ende das Gefühl gehabt, es sei ein Übungssatz im Deutschunterricht. Schließlich war er aufgestanden, hatte den Stift hingeworfen und war in seine Jacke geschlüpft.
Lefti hatte am Sonntag geschlossen, daher war er in die Piccola Cucina gegangen, eine winzige Trattoria am Rathausplatz. Er hatte eine kleine Karaffe roten Hausweins bestellt, einen rauen apulischen Primitivo, von dem er wusste, das er ihm den Kopf nicht benebeln würde. Dazu hatte er sich, obwohl von Hunger noch keine Rede gewesen war, einen Teller weiße Anchovis in Olivenöl bringen lassen. An einem der schwarzbraunen Tischchen an der Wand war in einem dunkelroten Pullover mit goldenen Sternen eine junge Frau gesessen. Sie hatte niedergeschlagen gewirkt und einen Limoncello nach dem anderen gekippt. Daniela, die runde schwarzlockige Kellnerin, hatte sie geduzt und ab und zu leise einige Sätze mit ihr gewechselt. Kovacs hatte nachgegrübelt, aber es war ihm nicht eingefallen, woher er die Frau kannte.
Er hatte Weißbrot abgebrochen und damit Öl aufgetunkt. Wenn er mit einer Sache wirklich unzufrieden war, fielen ihm in der Regel tausend weitere Dinge ein, die ihm nicht passten: Yvonne, die sein Leben in eine eigenartige Richtung gelenkt hatte; Charlotte, die ewig wie Gemüse aussehen würde, selbst in einem roten Angorapullover; die Stadt, die ihn in ihren Klauen hielt; der klamme Winter im Further Becken; Marlene mit ihren hausfrauenartigen Silvesterideen; die Rumänen, die nur zum Autoaufbrechen hierher kamen; die Goldknöpfe an Philipp Eyltz’ Blazer; die WP, die das Land erbarmungslos ausbeutete; die Millionen Menschen, die das nicht sehen wollten; seine eigene Lethargie, die jeden Winter daherwogte wie eine riesige träge Nebelbank. Er hatte sich schließlich von Daniela einen Kellnerblock geben lassen, seinen Stift aus der Tasche geholt und auf die schmalen Zettel Sätze geschrieben, zum Beispiel: ›Mauritz ist faul.‹ Oder: ›Eleonore denken lassen!‹ Oder: ›In erster Linie bringt man jemanden aus der eigenen Familie um.‹ Am Ende hatte er versucht, aus dem Gedächtnis Sebastian Wilferts Leiche zu skizzieren, wie sie da mit weit ausgebreiteten Armen verkehrt herum auf der Scheunenrampe lag. Daniela hatte ihm zwar kurz über die Schultern geschaut und gesagt: »Sieht aus wie ein Gekreuzigter«, doch in ihm war letztlich trotzdem das Gefühl geblieben, keinen Zentimeter weitergekommen zu sein.
Kovacs ging auf und ab und schlug seine Hände gegeneinander. Eine ähnliche Unruhe hatte er zuletzt vor mehr als sechs Jahren verspürt, als ein frühpensionierter Finanzbeamter aus Wels eine Spur von Sexualdelikten durch das Salzkammergut und die Obersteiermark gezogen hatte. Am Ende war die zehnjährige Michaela Moor aus Waiern vergewaltigt und danach erdrosselt worden und sie hatten zwar das Sperma gehabt und somit die DNA, sonst aber auch schon nichts. Schließlich hatte Strack
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