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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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gleich zum Kern«, sagte sie. Kovacs schaute ihr linkes Schlüsselbein an und nickte.
    Patrizia Fleurin hob eins der Tücher weg. Sie hatte die Masse, die früher Sebastian Wilferts Kinn und Unterkiefer gewesen war, mit Hilfe eines Stücks Klebefolie nach oben geklappt und auf diese Weise die Halspartie freigelegt. Hinunter bis zum Kehlkopf war alles komplett zerstört, das Zungenbein mehrfach gebrochen und nach hinten gedrückt. Einen knappen Zentimeter unterhalb des Schildknorpels allerdings, der selbst, abgesehen von einer Gewebeabscherung am obersten Pol, völlig heil war, gähnte ein breiter, quer verlaufender Spalt. Das zerquetschte Kinn sei so darüber gelegen, erklärte Fleurin, dass man die Sache nicht gleich gesehen habe.
    »Und?«, fragte Kovacs.
    »Ein sehr scharfes Werkzeug und ein sehr entschlossener Schnitt.«
    Ludwig Kovacs schloss kurz die Augen. Der Schwindel, den er für einen Moment befürchtet hatte, kam glücklicherweise nicht.
    Fleurin nahm zwei lange Pinzetten vom Instrumentenbrett und zog die Ränder der Wunde auseinander. Der Schnitt verlaufe annähernd horizontal, erklärte sie, vielleicht eine Spur von links oben nach rechts unten, und habe mit Ausnahme des rechtsseitigen Blutgefäßstranges sämtliche Halsorgane durchtrennt, einschließlich der Speiseröhre und des linken Musculus sternocleidomastoideus, was, wenn man davon ausgehe, dass der Schnitt von hinten geführt worden sei, für einen rechtshändigen Täter spreche. Sie zeigte ihm in der Tiefe der Kluft die Schnittmarke, die sich wie eine Kerbe quer über die Vorderseite des vierten Halswirbelkörpers zog. Aus ihr sei lediglich abzuleiten, dass der Täter ein sehr gut geschliffenes klingenartiges Werkzeug benutzt habe.
    »Also sozusagen die Kehle durchgeschnitten«, sagte Kovacs. Er wusste nicht, wo er seine Hände hintun sollte.
    »Sozusagen, ja.«
    »Und danach über den Kopf gefahren.«
    »Nein«, sagte die Gerichtsmedizinerin, »das garantiert nicht.« Kovacs starrte ihr für einige Sekunden in die Augen. Sie wirkte vollkommen sicher. Sie irrt sich, dachte er, sie irrt sich hundertprozentig. Der Traktorreifen, der über den Kopf des alten Mannes rollt, war das Einzige, das ich bis jetzt als gegeben angenommen habe. Sie habe im gesamten Bereich des zerschmetterten Schädels keine nennenswerten Erd- oder Kiesspuren gefunden, sagte Fleurin, ganz im Gegenteil – das Wundareal sei von einer geradezu erstaunlichen Sauberkeit, was bei einer Überrollung vollkommen undenkbar sei. Mauritz sei übrigens zum gleichen Ergebnis gekommen, sie habe vor etwa einer Stunde mit ihm telefoniert. Ich wollte Mauritz anrufen, sie hat es getan, dachte Kovacs – ich bin zu langsam. »Wie dann?«, fragte er und steckte die Unterarme seitlich hinter den Brustlatz der Schürze. »Ich weiß es nicht«, sagte sie, »die Schädelkalotte ist vorne großflächig eingedrückt und an der Pfeil- und Hinterhauptsnaht durch den Druck von innen geborsten. Vielleicht ein riesiger Vorschlaghammer. Mauritz meint, wenn er die wenigen verwertbaren Blut- und Gehirnverspritzungsspuren ernst nimmt, sieht es so aus, als sei dem armen Mann ein Meteorit mitten ins Gesicht gefallen.« Kovacs schloss erneut die Augen. Mauritz hatte sich über seine Astrophilie noch nie lustig gemacht. Ich muss einen klaren Kopf bewahren, dachte er, und ich darf nicht paranoid werden.
    »Ein Meteorit?«, sagte er, »und Mauritz hat ihn wohl mit nach Hause genommen?!«
    Fleurin zuckte mit den Schultern. »Mauritz behauptet, Meteoriten verdampfen beim Aufprall auf der Erdoberfläche.« Manchmal schlagen sie einen Krater, dachte Kovacs, und manchmal bleiben winzige Eisenklümpchen zurück.
    »Wer macht so etwas?«, fragte er, »welcher Teufel macht so etwas?«, und im selben Augenblick fiel ihm ein, wie Sabine Wieck damals am frühen Morgen über das gelbe Absperrband gekotzt hatte. Er würde sie anfordern. Demski war noch auf Urlaub und mit Eleonore Bitterle allein würde es nicht gehen. Er würde auch den jungen Lipp anfordern. Lipp war unerschrocken und ließ sich etwas sagen.
    »Warum fragen Sie mich das?«
    »Es heißt doch, Pathologen wissen immer alles.«
    »… aber alles zu spät. Sehr originell!«
    Kovacs war nahe daran, sich zu entschuldigen, obwohl er diesen abgedroschenen Satz tatsächlich nicht im Kopf gehabt hatte. Er fühlte sich in Gegenwart dieser Frau wohl, das beunruhigte ihn. Es mochte an ihren Sommersprossen liegen und am roten Haar, mehr vermutlich jedoch daran, dass sie

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