Die Süße Des Lebens
in einem seiner seltenen lichten Momente die entscheidende Idee mit den Wohnmobilen geliefert. Sie hatten den Täter kurze Zeit später in einem dunkelblauen Campingbus erwischt, als er gerade dabei gewesen war, ein Kuvert mit Fotografien seines letzten Opfers im Fach mit dem Feuerlöscher und dem Verbandszeug zu verstauen. Er hatte trotzdem die Dreistigkeit besessen, alles abzustreiten, und Kurt Niemeyer war innerhalb einer Sekunde völlig ausgerastet. Das Nasenbein des Mannes war Matsch gewesen, bevor die anderen auch nur die Hand hatten heben können, und erst dann hatte Demski Niemeyer mit beiden Armen von hinten fest umfangen. Die beiden Töchter Niemeyers hatten sich damals im Volksschulalter befunden, daher hatten sie alle seine überschießende Reaktion verstanden, genauso, dass er in der Folge sein Jusstudium rasch beendete und aus dem Kriminaldienst ausschied. Inzwischen war Niemeyer Jugendrichter in Innsbruck. Ab und zu telefonierte er mit Kovacs, und ein- bis zweimal pro Jahr schaute er an seiner früheren Arbeitsstelle vorbei.
Kovacs trat an die Brüstung der Dachterrasse und schaute über die Dächer der Walzwerksiedlung hinweg nach Osten. Über den Zacken der Ennstaler Berge würde in zwei Stunden die Sonne aufgehen. Aus einem der Stahlschlote des Holzwerkes stieg senkrecht eine weiße Rauchsäule. Von den Einfallstraßen waren die Geräusche der ersten LKWs zu vernehmen. Ich werde nicht loskommen von dieser Stadt, dachte Kovacs, ich werde weiter mit Marlene schlafen, vermutlich in abnehmender Frequenz, ich werde weiter in den Himmel schauen und ich werde der Einzige sein, der hier in Pension geht.
Er änderte nichts an der Einstellung des Fernrohrs. Das Okular war eiskalt. Er stellte sich vor, wie der Augapfel daran festfror und beim Zurückziehen des Kopfes an dem schwarzen Metallzylinder hängen blieb. Regulus im Löwen. Der blasse Fleck des Spiralnebels M 35. Castor und Pollux. Ich habe einen Bruder, dachte Kovacs, er trainiert zweitklassige Fußballmannschaften und säuft. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, beschimpft er mich. Ich will von ihm nichts wissen. Kovacs liebte Castor, den einen der beiden Hauptsterne des Sternbilds Zwillinge. Was mit freiem Auge aussah wie ein mittelgroßer weißer Durchschnittsfixstern, entpuppte sich bereits unter geringer Vergrößerung als ein Haufen von sechs Einzelsternen. Die Dinge sind meistens vielfältiger, als sie scheinen, dachte er. Er steckte die Hand in die Tasche und fühlte die Kellnerblockzettel, die er beschrieben hatte. Er sah plötzlich den dunkelroten Pullover mit den goldenen Sternen vor sich, den die junge Frau mit dem traurigen Blick und den vielen Limoncellos getragen hatte. Sterne, dachte er, überall Sterne, Ablenkung, die einen nicht weiterbringt.
Er klopfte den Schnee von seinen Stiefeln, bevor er die Treppe zur Wohnung hinabstieg. Eine Sekunde lang blieb er vor dem Vorzimmerspiegel stehen. Unterhalb seines linken Auges saß ein Altersfleck, der langsam größer wurde. Er würde die Jacke nicht mehr ablegen, sondern gleich ins Büro gehen; er würde in den meisten Räumen Licht machen und die Espressomaschine anwerfen; dann würde er sich an die Tafel stellen und zu zeichnen beginnen.
Eleonore Bitterle war die Erste, die auftauchte, wie immer, diesmal allerdings knapp, denn kaum hatte sie sich aus ihrem Kunstpelzmantel geschält, stand der junge Lipp in der Tür. Er trug eine dick wattierte Holzfällerjacke, darunter einen hellgrauen Wollpullover. »Es fühlt sich komisch an«, sagte er, »ein wenig wie im Urlaub.« Eyltz habe ihn angemailt, erzählte er, im Befehlston, wie üblich: Er habe sich ab sofort und für die Dauer der Ermittlungen im Fall Sebastian Wilfert als der Kriminalpolizei, Abteilung Kapitalverbrechen, zugeteilt zu betrachten und sich am Montag, den 30. Dezember, um acht Uhr vor dem Büro des leitenden Hauptkommissars, dem er vorübergehend unterstellt sei, einzufinden. »Da weiß man wenigstens, woran man ist«, sagte Kovacs. Lipp grinste säuerlich.
Sabine Wieck kam in Uniform, einschließlich Dienstwinterjacke, und lief prompt mächtig rot an, als sie Lipp in Zivil dasitzen sah. Sie habe nicht gewusst, was erwartet werde, stammelte sie, und jemanden anzurufen, nur um zu fragen: Was soll ich anziehen?, sei ihr blöd vorgekommen. »Darauf kommt’s nicht an«, sagte Eleonore Bitterle. Sie selbst trug eine olivgrüne Wollstoffhose und einen schwarzen Rollkragenpulli. Sie sieht aus wie eine Gymnasialprofessorin, dachte
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