Die Süße Des Lebens
Kovacs, Latein und Geschichte vielleicht. Zugleich merkte er seine Erleichterung darüber, dass ihr die Anwesenheit einer zweiten Frau offenbar keine Probleme bereitete. Meine Gewissheit, dass zwei Frauen auf einem Fleck zwangsläufig den Beginn einer Katastrophe darstellen, hat wohl vor allem mit mir zu tun, dachte er. »Mauritz fehlt«, sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel. »Der Dicke von der Spurensicherung?«, fragte Lipp.
»Ganz genau, der Dicke.«
»Sonst ist er immer pünktlich.« Eleonore Bitterle schaute auf die Uhr. »Vielleicht hat er sich verkühlt«, sagte Kovacs, »er hat gestern gearbeitet, hoffe ich.« »Super«, sagte Lipp und strahlte. Lipp hieß Florian mit Vornamen, war vor einem Dreivierteljahr aus dem elterlichen Haushalt ausgezogen und lebte allein. Er hatte an einer Metallbau-HTL maturiert und dann nicht, wie es der Vater, der selbst Prokurist bei einem großen Aufstiegshilfenhersteller war, eigentlich geplant gehabt hätte, ein technisches Studium begonnen, sondern war zur Polizei gegangen. Im Einstellungsgespräch hatte er gesagt, er wolle nicht zu den Millionen gehören, die sich ihre Kindheitsträume wegnehmen lassen. Er habe schon mit fünf Polizist werden wollen und dabei bleibe er. Am Ende des Aufnahmeprotokolls stand eine handschriftliche Anmerkung Rahbergers, des Leiters der Personalabteilung: ›Infantil?‹ Sie hatten ihn trotzdem genommen. Das Einzige, worüber nichts zu finden gewesen war, war Lipps sexuelle Orientierung. Angeblich hatte es im ersten Jahr seiner Polizeiausbildung eine Beziehung zu einer Gymnasiastin aus Steyr gegeben, aber das war auch mehr ein Gerücht als sonst was. Kovacs war beunruhigt, darüber, dass er nichts wusste, und darüber, dass er beunruhigt war. Früher habe ich eine Schwuchtel zehn Kilometer gegen den Wind gerochen, dachte er, heute ist das nicht mehr so. Entweder sie haben sich verändert oder ich.
Kovacs zog die quadratische weiße Kunststofftafel, die an der Stirnseite des Raumes stand, nahe an den Besprechungstisch heran, nahm einen Schwamm und löschte den Weihnachtsbaum, den er vor gut einer Stunde draufgezeichnet hatte. Dann teilte er die Tafel mit einem dicken dunkelblauen Filzstift in vier Felder, indem er eine senkrechte und eine waagrechte Linie zog. »Was wird das?«, fragte Lipp. »Ein Selbststrukturierungssystem«, antwortete Kovacs, »so einfach, wie es meinem provinziellen Kriminalistengehirn entspricht.« Er schrieb ›Was haben wir?‹, ›Was brauchen wir?‹, ›Wer macht was?‹ und ›Anmerkungen‹ jeweils an den Oberrand der Felder. Lipp übertrug das Ganze auf seinen Notizblock. Eleonore Bitterle hatte den Kopf gesenkt und betrachtete ihre Handflächen. Kovacs ärgerte sich darüber, dass er sich selbst wieder einmal schlecht gemacht hatte. »Gewalt ist in erster Linie einfach«, sagte er.
Mauritz stand in der Tür, als Kovacs ›Rechtshänder‹ in die Rubrik ›Was haben wir?‹ schrieb. Er hielt einen weißen Papiersack hoch und sagte: »Frühstück!« Die anderen schauten in Richtung Kovacs. Der seufzte laut auf und ließ den Stift sinken. »Geh hinüber und mach uns allen Kaffee«, sagte er.
Dass sowohl Lipp als auch Bitterle Tee wollten und nicht Kaffee, entging Kovacs bereits, da in diesem Augenblick Christine Strobl, die Abteilungssekretärin, hereinstürmte und ihm den Telefonhörer hinhielt. »Der vierte Versuch«, sagte sie, »kein Name und sehr lästig.« Er trat auf den Gang hinaus.
Die Frau hatte eine schrille Stimme und der erste Satz, den sie sprach, war: »Das nächste Mal ist der Kopf dran!« Kovacs schloss die Augen. Die Dinge sickern durch, dachte er, hauptsächlich am Wochenende. Er schwieg. Nach einer Weile schien die Frau zu merken, dass er ihr zuhörte, und sie begann ihren Redefluss zu ordnen. Sie wolle anonym bleiben und rufe auch aus einer Telefonzelle an, da sie vermute, dass ohnehin wieder nichts passieren werde, und sie habe von Leuten gehört, die früher schon versucht hätten, etwas zu unternehmen, und selbst nur in die ärgsten Schwierigkeiten geraten seien. Die Sache sei vor drei Tagen passiert, am Freitagnachmittag, vielleicht um vier, jedenfalls noch bei Tageslicht. Sie sei mit ihrem Hund spazieren gegangen, ziellos, könne man sagen, und zufällig durch die Bergheimstraße gekommen, zwei Minuten auf der Grazer Bundesstraße und dann östlich, jemandem von der Polizei brauche sie das nicht zu erklären. Das gesamte Gelände falle dort ab in Richtung Stadt und im Garten des
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