Die Süße Des Lebens
woher ihre Idee von der korrekten Brühzeit stammte. Dennoch nannte sie ihn in diesen Situationen am liebsten einen starrköpfigen Dilettanten. Horn spießte die Tomaten auf eine Bratennadel und zog ihnen mit einem kleinen spitzen Messer die Haut ab. »Siehst du«, sagte er. »Trotzdem ist es falsch«, sagte sie und hackte auf ihre Jungzwiebelschäfte ein. Er lachte und legte die abgezogenen Tomaten nebeneinander auf. »Fünf nackte Indianer«, sagte er. Irene war eindeutig noch nicht entspannt. »Ihr Psychoanalytiker mit eurer selbstgefälligen Metaphorik.«
»Nur deswegen tun wir, was wir tun«, antwortete er und begann die Tomaten in grobe Würfel zu schneiden. Das einzig Positive des Vormittages sei Caroline Webers Zustand gewesen, fuhr er fort. Entweder habe das Neuroleptikum gegriffen oder ihre Paranoia sei von selbst schwächer geworden, jedenfalls habe sie nach dem Bericht der diensthabenden Schwestern am Vorabend ihre Tochter eine Viertelstunde lang auf dem Arm gehalten, ohne in irgendeiner Weise zu dekompensieren. Auf ihren Mann achte man seit dem letzten Vorfall etwas genauer und tatsächlich beobachte man vermehrt eine unangenehm subtile Aggressivität. »Ich halte mein Kind auch manchmal für den Teufel und du bist sowieso ständig subtil aggressiv«, sagte Irene. Er reagierte nicht, sondern kippte die Pfanne und sah zu, wie sich das Olivenöl langsam verteilte. Stefan Reisinger, der frühpensionierte Elektriker, habe auf Anordnung der Stimmen, die er wieder verstärkt höre, versucht, ein Putzmittelkonzentrat zu trinken, und sich dabei schlimme Verätzungen in Schlund und Speiseröhre zugezogen, und Liu Pjong, die koreanische Lebensgefährtin des Spediteurs Jurowetz, habe in ihrer manischen Verfassung zuletzt zirka zwanzig Beschwerdebriefe pro Tag geschrieben, was nicht so angenehm sei, da sie dieselben auch weggeschickt hatte und daher seit einigen Tagen ständig das Büro des Patientenanwaltes auf der Station anrufe. Außerdem habe sie es in den vier Tagen ihres Aufenthaltes geschafft, selbst die friedlichsten Vertreter des Pflegepersonals gegen sich aufzubringen. »Geht auf Herbert zu, zieht ihren Pullover hoch und sagt: ›Ich habe unlängst Ihre Frau gesehen, Herbert, im Kaffeehaus, ganz zufällig, und jetzt verstehe ich, dass Sie sie nicht mehr ficken wollen. Nehmen Sie doch mich.‹« Herbert stehe da und starre auf das erste Paar koreanischer Brüste, das ihm in seinem Leben untergekommen sei, und allen sei klar, dass es viel Schlimmeres gebe, als auf diese Brüste zu starren, und zugleich sei er durch seine gehemmte Aggression dermaßen paralysiert, dass man ihn am Arm nehmen und aus dem Zimmer führen müsse.
»Draußen hat er mich gepackt und angebrüllt, wenn ich sie nicht augenblicklich niederspritze, kündigt er erst und dann dreht er ihr den Hals um.«
»Und was hast du gemacht?«
Horn zog ihr das Schneidebrett weg, schob die zerkleinerten Zwiebeln mit dem Messerrücken in die Pfanne. »Was hättest du an meiner Stelle gemacht?«, fragte er.
»Ich hätte Herbert niedergespritzt«, sagte Irene und gab einer halboffenen Lade mit der Hüfte einen Stoß.
»Die weibliche Variante.«
»Und deine? Die männliche?«
»Die pragmatische«, sagte Horn und zuckte mit den Schultern, »was blieb mir anderes übrig?«
Brüste plus Aggressivität versus Hilflosigkeit und Verantwortung, irgendwie ein klassisches Dilemma, sagte Irene, jetzt kapiere sie auch, warum er durch Eis und Schnee nach Hause gegangen sei. Sie schlug mit Vehemenz Eier in ein halbhohes Kunststoffgefäß und verquirlte sie mit einem Schneebesen. Danach leerte sie die Tomatenwürfel auf die glasig gerösteten Zwiebeln und rührte durch. Horn setzte sich an den Tisch und sah ihr zu. Ihre Bewegungen waren hastiger als sonst, das fiel ihm auf. In der Sache mit dem klassischen Dilemma hatte sie natürlich recht. Trieb und Kulturleistung, der alte Hut. Als Psychiater bist du nichts anderes als ein Polizist, der so tut, als wär er keiner, dachte er. »Genau«, sagte Irene.
»Was heißt ›genau‹?«
»Du bist ein Polizist, der so tut, als wär er keiner.«
Horn spürte, wie er rot anlief. »Habe ich vor mich hin gesprochen?« Irene lachte. »Das tust du doch ständig«, sagte sie. Mir passieren Dinge, die ich nicht kontrollieren kann, dachte er, und die anderen lachen darüber.
Er schaute zum Fenster. Der Schneefall wurde immer dichter. Tobias war am Vortag nach Obertauern auf Schulschikurs gefahren. »Keiner braucht
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