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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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dieses psychopathischen Landes in den Unterstufen der allgemeinbildenden höheren Schulen ein Drittel der Musikstunden streichen, was am Gymnasium zwangsläufig zum Verlust von zumindest einer Vollzeitstelle führen werde, und da sie von den drei Musikprofessoren die Einzige sei, die nicht das Lehr-, sondern nur das Konzertfach vorzuweisen habe, sei klar, wen es erwischen werde. »Du hast völlig recht«, sagte sie, »erst jagen sie mir Angst ein, dann machen sie mich kaputt.« Horn legte die Gabel weg und streckte ihr die Hand hin. »Red keinen Unsinn«, sagte er, »du wirst mehr Privatschüler nehmen und mehr Freizeit haben und ich werde mehr arbeiten.« Irene zog eine Augenbraue in die Höhe und sagte gar nichts. Sie ist deprimiert, dachte er, sie hat vor verschiedenen Dingen Angst und ich weiß nicht, was ich tun soll.
    Er hatte einen Schal vorm Gesicht und die Jackenkapuze über die Ohren gezogen und stemmte sich gegen den waagrecht daherjagenden Schnee. Irene hatte ihn noch gefragt, ob sie ihn nicht mit dem Auto in die Stadt hinunterbringen solle, doch er hatte abgelehnt. Es gab nichts Erhabeneres als einen Schneesturm und kaum etwas, das ihm zugleich physisch so nahe war. Schon als Kind hatte er schlechtes Wetter geliebt und schon damals hatte das keiner verstanden. Immer wieder war er so lange durch den Regen gelaufen, bis er keinen trockenen Faden mehr am Leib gehabt hatte, und in einem Winter seiner Volksschulzeit hatte er sich mehrmals in den Schneefall hinaus gestellt und ›Ich erfriere‹ gespielt. Er hatte genau gespürt, wie die Wärme allmählich aus seinen Fingern und Zehen verschwand, und das Gezeter seiner Eltern war ihm vollkommen egal gewesen.
    Er zog den Kapuzenschirm tief in die Stirn. Trotzdem blieben die Flocken an seinen Wimpern hängen, sobald er den Kopf auch nur ein wenig hob. An der Dachkante des Transformatorhäuschens brach sich singend der Wind und von den jungen Fichten am Straßenrand stoben Wolken von Neuschnee. In größerer Distanz sah man gar nichts, nicht die Stadt, nicht den See, nicht einmal das Föhrenwäldchen südwestlich des Hauses.
    Zuletzt war es ihm gelungen, Irene ein wenig zu beruhigen. Gemeinsam hatten sie beschlossen, die Sache mit dem Jobverlust erst zu glauben, wenn es tatsächlich so weit war, und für Mimi hatten sie einen Aufsichts- und Versorgungsplan entworfen, der nicht einmal in der Zeit bis zur Rückkehr von Tobias nennenswerte Lücken aufwies. Dass bis jetzt ausschließlich Tiere innerhalb des Stadtgebietes umgebracht worden waren, hatte Irene freilich nicht gelten lassen und gemeint, sie sei geografisch noch nicht völlig fehlorientiert und die biologische Beobachtungsstation liege zwar nahe zum alleräußersten Rand der Stadt, aber eindeutig bereits außerhalb, und seine Behauptung, Schnee und niedrige Temperaturen hielten die Katze mit Sicherheit davon ab, ins Freie zu gehen, hatte sie mit dem Satz quittiert: »Du kennst offenbar dein Haustier nicht.« Er merkte jedenfalls, wie er in Gedanken das Gebäude von oben bis unten nach Schlupflöchern durchforstete, durch die die Katze entwischen könnte, und wie er beruhigt war, als er keines fand.
    Während er sich an die Bundesstraße herankämpfte, kam ihm Daniel Gasselik in den Sinn, so sehr er sich innerlich auch dagegen wehrte. Seine sparsamen Bewegungen fielen ihm ein, die eigenartig geschraubte Sprache und die Art, wie er zwischendurch seinen rechten Mittelfinger knacken ließ. Horn hatte zweimal mit ihm zu tun gehabt, das erste Mal vor knapp drei Jahren, als der damals Dreizehnjährige in der Schulklasse ständig die Absicht geäußert hatte, sich aus der Firma des Vaters den grünen Grand Cherokee mit der verchromten Rammvorrichtung zu holen und damit die Eltern und Geschwister einiger Mitschüler totzufahren. Das Jugendamt hatte gemeint, es müsse auf der Stelle eine intensive Psychotherapie her, und eine entsprechende Weisung erteilt, doch der Knabe war dann vor ihm gestanden und hatte gesagt, er solle einen Kürbis ficken, eine gelbe Butternuss am ehesten, die sei auch für Schlappschwänze geeignet, und er könne sich die Psychotherapie in den Arsch schieben, ganz tief hinein, bis zum Blinddarm hinauf, denn das habe er vor kurzem in Biologie gelernt, dass der Blinddarm am Anfang des Dickdarms liege.
    Die zweite Begegnung hatte vor etwa acht Monaten stattgefunden, im Rahmen jenes Strafverfahrens, das Daniel Gasselik am Ende ins Gefängnis gebracht hatte. Der Jugendliche war auf einer Vespa,

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