Die Süße Des Lebens
Schikurse«, hatte er zum Abschied gesagt und den Koffer ins Gepäckfach des Autobusses hineingetreten. Tobias hasste seinen Turnprofessor, er hasste einige seiner Klassenkollegen und er tat sich beim Tiefschneefahren schwer.
Scheißkontrolle, dachte er, und ihm kamen jene Monate seiner Lehranalyse in den Sinn, als er auf der Couch regelmäßig eine Erektion bekommen hatte. Kaum hatte er sich in der Horizontalen befunden, zack, war der Ständer da gewesen. Anfangs war er vor Peinlichkeit fast versunken, dann hatte es ihn aggressiv gemacht, schließlich hatte er versucht, es zu ignorieren. Seine Analytikerin war ziemlich gelassen damit umgegangen und als er sie eines Tages gefragt hatte: »Freut es Sie eigentlich?«, hatte sie gesagt: »Na, was glauben Sie denn – natürlich freut das eine Frau in meinem Alter.« Sie war damals irgendwas zwischen siebzig und fünfundsiebzig gewesen, groß, schlank und etwas zerbrechlich wirkend, auf dem Kopf immer eine kunstvolle Aufsteckfrisur. Danach war ihm jedenfalls allerhand zu Nähe und Berührung und Masturbation eingefallen, daran konnte er sich erinnern, und der Erektionsautomatismus war von selbst wieder verschwunden.
Irene legte ihr Besteck hin und schaute ihn an. »In letzter Zeit habe ich ständig Angst«, sagte sie. Horn tauchte ein Stück Baguette in die flaumige Ei-Tomaten-Masse. »Wegen Michael?«, fragte er, steckte es in den Mund und kaute genüsslich. Sie schüttelte den Kopf.
»Wegen Gabriele?«
»Nein, ich meine nicht Sorgen, sondern Angst.«
»Du hast sonst nie Angst«, sagte Horn, »du greifst Seeigel mit bloßen Händen an. Du setzt dich allein auf ein Podium und spielst Bach oder Saint-Saëns. Du gehst aus Wien weg in die Provinz. Angst passt nicht zu dir. In unserer Beziehung bin ich derjenige, der Angst hat.« Sie schüttelte erneut den Kopf und schluckte. Horn stellte die Pfeffermühle, nach der er soeben gegriffen hatte, wieder weg. »Du meinst es ernst, oder?«
Sie nickte. »Es ist die Sache mit den Tieren«, sagte sie.
»Welche Sache mit den Tieren?«
»Die in der Zeitung steht.«
Unwillkürlich schaute er sich um. Die Katze lag vor dem Heizkörper und schlief. »Natürlich ist es auch wegen Mimi«, sagte Irene, »aber nicht nur.« Sie habe jede Nacht böse Träume und das Erste, woran sie am Morgen denke, seien diese toten Tiere: Hühner, Enten, Hamster, Meerschweinchen, Katzen. Vier Katzen habe man bisher gezählt, habe sie in der Zeitung gelesen. »Wer tut so etwas?« Horn zuckte mit den Schultern. Das Eigenartige sei, dass ihr das Töten der Tiere mehr Angst mache als die Sache mit Wilfert. »Ein Psychopath tut so etwas«, sagte Horn schließlich, »ein richtiger Psychopath.« Irene sagte, sie kenne keinen Psychopathen, und Horn erwiderte, er schon.
Horn stand auf, holte einen kleinen Teller aus dem Schrank, schaufelte Omelett drauf und stellte ihn der Katze hin. Sie öffnete ein Auge und schnupperte. Psychopathen gehe es um Ängstigung und Vernichtung, sagte Horn, darum, anderen erst Angst einzujagen und sie dann zu zerstören. Umgekehrt seien sie in der Regel selbst nicht imstande, Angst zu empfinden. »Setze ihnen ein Messer an die Brust, und sie werden dir ins Gesicht lachen«, sagte er, »wenn du das Messer wegtust, bringen sie dich um.« Die Katze bog ihren Rücken durch, leckte dort und da prüfend über die Eimasse und begann zu fressen. Wir werden sie einsperren, dachte Horn, wir werden sie nicht mehr ins Freie lassen. In Häusern war der Typ noch nie, dachte er, in offenen Stallverschlägen und Bootshäusern ja, in geschlossenen Gebäuden nein. Er dachte an die Beschreibung der halb abgetrennten und zermantschten Entenköpfe im letzten Artikel des ›KURIER‹ und er dachte daran, dass es jemanden gab, dem er solche Dinge zutraute, wobei derjenige andererseits nicht wirklich in Frage kam, denn er saß im Gefängnis.
»Mögen Psychopathen Musik?«, fragte Irene. Horn blickte überrascht auf. »Das ist eine pathetische Frage«, sagte er.
»Das ist gar keine pathetische Frage.«
»Doch, das erinnert mich an diesen Spruch, den man in meiner Kindheit auf Holzschilder gemalt kaufen konnte: ›Wo man singt, da lass dich ruhig nieder …«
»… böse Menschen haben keine Lieder.‹ Genau. Das hing bei meiner Tante im Vorzimmer, mit einem Meisenpärchen.«
»Na siehst du. Wenn das nicht pathetisch ist!«
»Es könnte auch einfach wahr sein«, sagte sie. Im nächsten Schuljahr wolle das psychopathische Unterrichtsministerium
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