Die Süße Des Lebens
das Chaos der Welt zu bringen sei.
»Er steht noch da«, sagte Kovacs, als hinter einer Geländekuppe das Dach des Puch G auftauchte. Sabine Wieck schaute ihn irritiert an und er merkte, wie sie nahe daran war, zu fragen: »Was sollte er sonst?«, es aber angesichts der Dinge, die passiert waren, bleiben ließ. Wer Bienenstöcke zerstörte, hatte vermutlich auch kein Problem damit, ein Polizeiauto zu stehlen. »Es hätte auch der Holzstoß drauffallen können«, sagte Kovacs und sie lachte. Als er für Joachim Fux die Beifahrertür öffnete, dachte er, dass die Farbe des Wagens im offziellen Sprachgebrauch wohl ›Nachtblau‹ hieß, dass aber in Wahrheit die Nacht niemals blau war, sondern immer nur kohlrabenschwarz, und dass auch beim Blick durchs Teleskop auf die allerherrlichsten Sterne hinter ihnen ein Höllenschlund gähnte, die bodenlose Tiefe, die keine Farbe kennt.
Demski und Bitterle saßen über der Geschichte eines apulischen Olivenbauern, der im vergangenen Jahr sowohl den Schafen als auch der gesamten Familie des Nachbarn die Köpfe abgeschnitten hatte. Der Mann war letztlich unter der Diagnose ›paranoide Schizophrenie‹ in einer psychiatrischen Hochsicherheitsanstalt gelandet. »Der war’s nicht«, sagte Demski. »Warum nicht?«, fragte Kovacs.
»Weil ein apulischer Kopfabschneider nicht einmal bis Rom fährt – selbst wenn er aus der geschlossenen Psychiatrie entkommt.«
»Kennst du so viele apulische Kopfabschneider?«
»Kennst du einen einzigen Apulier, der es bis hierher geschafft hat?«
Kovacs dachte nach. »Der rote Hauswein in der Piccola Cucina«, sagte er schließlich. Demski nahm seine schwarz gerahmte Brille ab und griff sich an die Stirn. Lipp kam mit einem Tablett, auf dem er eine Kanne Tee samt Tassen balancierte, in den Besprechungsraum. »Wo genau ist eigentlich Apulien?«, fragte er. »O Gott«, stöhnte Demski. Kovacs dachte an die junge Frau in dem dunkelroten Pullover mit den goldenen Sternen und an ihre vielen Limoncellos. Er fragte sich, wie sie Silvester verbracht hatte. »Der Stiletto«, sagte Eleonore Bitterle. Lipp schaute blöd. »Der was?« Bitterle riss ein Blatt Papier aus ihrem Notizblock, zog rasch eine Umrisslinie und zeichnete an einer Stelle ein Sternchen hinein. »Der Bleistiftabsatz der italienischen Halbinsel – das ist Apulien«, sagte sie. Lipp wurde rot und murmelte etwas von ›schon in der Schule nicht so besonders gemocht‹.
Kovacs betrachtete Bitterle. Sie trug einen Rollkragenpullover und eine Hose, wie immer um diese Jahreszeit. Kleidung, die einem nicht in Erinnerung blieb. Es hat nichts zu sagen, dass sie von Stilettos spricht, dachte er, es hat mit Geografie zu tun, mit sonst gar nichts. ›Mrs. Brain‹ würde niemals einen roten Pullover mit goldenen Sternen tragen. Mit dem Limoncello ist es nicht so eindeutig, dachte er – mit Demski würde sie vielleicht sogar einen Limoncello trinken. Von Anfang an hatte sie am ehesten zu ihm Kontakt gehabt, auch in der Zeit, als ihr Mann noch gelebt hatte. In Demskis Nähe konnte sie sogar emotional werden, auch wenn selbst dabei die intellektuelle Tönung niemals verloren ging. Am liebsten ereiferten sich die beiden über die Aufgeblasenheit gewisser selbsternannter Kapazitäten der Kriminalpsychologie, die großspurig behaupteten, sie seien ›Profiler‹, und Bücher mit Titeln wie ›Monster Mensch‹ oder ›Was mich Geoffrey Dahmer lehrte‹ schrieben. »Dieser Schrott wird dann an Leute mit Aggressionshemmung und niedrigem Intelligenzquotienten verkauft«, pflegte Demski zu sagen und Bitterle nickte mit glühenden Wangen. Er ist klug und arrogant und sie ist klug und bescheiden, dachte Kovacs – wesentlich ist, dass sie sich gegenseitig für gescheit halten, das erzeugt offenbar Vertrautheit.
Wenn jemand George Demski nach seinem Beruf fragte, antwortete er meistens: »Student«, und das war insofern richtig, als er seit Jahren ein vollkommen irreguläres Fernstudium an einer belgischen Universität absolvierte – Soziologie, Ethnologie und Gruppendynamik. Ob er dabei etwas weiterbrachte, konnte niemand wirklich beurteilen. Ab und zu sprach er von Arbeiten, die er zu schreiben habe, zuletzt eine Metaanalyse der Literatur über die Arbeitszufriedenheit türkischer Akademikerinnen innerhalb gewisser EU-Staaten. Irgendwie klang so etwas glaubwürdig, obwohl keiner seiner Kollegen jemals auch nur eine Zeile zu lesen bekommen hatte. Es gibt da etwas Heikles, dachte Kovacs manchmal, einen wunden
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