Die Süße Des Lebens
selbstbewusst und abgegrenzt gewirkt wie später nie wieder.
Sie saßen eine Weile schweigend da und schauten beide aus dem Fenster. Am Vogelhaus versuchte sich ein Gimpelmännchen gegen einen Schwarm Kohlmeisen durchzusetzen. »In den letzten Tagen war ab und zu ein Wiedehopf da«, erzählte Horn, »das kommt selten vor.« Bauer schien nicht zuzuhören. Die Katze kam und strich um Horns Unterschenkel. Sie möchte hinaus, dachte er.
Draußen auf dem Gang wandte Bauer sich um. »Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte er, »Franziska Zillinger aus dem Pensionistenheim in Waiern war auf Wilferts Begräbnis, außerdem der kleine Gasselik.« Horn zögerte eine Sekunde. »Ich kenne keine Franziska Zillinger«, sagte er dann. Zugleich versuchte er die Reste der Kälte abzuschütteln, die soeben durch ihn hindurchgegangen war.
Sie fanden Clemens nicht in der Küche, sondern bei Irene im Stall. Es lief erneut das Schumann-Konzert. Clemens saß auf dem Bugholzstuhl und war offenbar dabei, das Booklet zur CD durchzublättern. Er erhob sich hastig und für einen Moment sah man am Relief seines Habits, dass er eine Erektion hatte. Horn verstand es. Auf der Rückseite des Booklets das hübsche, langhaarige Mädchen in einem ärmellosen Sommerkleid, lächelnd, dabei die Augen geschlossen, das Instrument locker am Leib. »Ich bin einfach der Musik gefolgt«, sagte der Abt, »zuerst habe ich ja gedacht, es ist Ihre Frau, die da spielt.« »Leider nein«, sagte Irene. Sie streckte sich und stand auf. Sie hatte Clemens von Anfang an nicht gemocht.
Horn erzählte von der Multiplen Sklerose, die die Laufbahn Jacqueline du Prés vor ihrem dreißigsten Geburtstag beendet und zum Mythos, der um ihre Person entstanden war, vermutlich entscheidend beigetragen hatte. »Frühvollendung«, sagte er, »jemand kann Dinge mit zwanzig, die andere erst mit fünfzig können.« Irene stellte die Musik ab. Sie stand für einige Sekunden reglos da, so als traue sie der Stille nicht. Die Töne werden von den Wänden aufgenommen und später langsam an den Raum abgegeben, wie bei einem akustischen Kachelofen. Das war eine ihrer Lieblingsvorstellungen. Wenn sie davon sprach, vibrierte sie vor Begeisterung.
»Manche Menschen sind ein wenig über dreißig, wenn sie sterben, und hinterlassen doch ein Werk, das die Welt verändert«, sagte der Abt.
»Schubert zum Beispiel.« Irene konnte Clemens wirklich nicht leiden, am allerwenigsten, wenn er in der Art einer Sonntagspredigt versuchte, über Religion zu reden. In Horns Augen war er in erster Linie tolpatschig und bedürftig. Sie schien etwas anderes wahrzunehmen.
»Fällt Ihnen nichts auf?«, fragte Clemens, als sie im Auto saßen und in Richtung Stadt fuhren. Horn schreckte hoch. »Nein. Entschuldigen Sie.« Er hatte an Frühvollendung gedacht, an den Satz: Jemand kann Dinge mit zwanzig, die andere erst mit fünfzig können, und daran, dass es Menschen gab, die gewisse Dinge vermutlich schon mit sechzehn konnten. Er hatte kurz überlegt, Bauer um seine Einschätzung zu bitten, es dann aber bleiben lassen. Keiner wusste, welche inneren Bilder Bauers fragile Psyche ertrug und welche nicht. Clemens strich mit der Handfläche sanft über Lenkrad und Armaturenbrett. Der Wagen war neu, ein schwarzer Passat Variant mit Allradantrieb. Eine Spende, die Gegenleistung in Wahrheit nicht der Rede wert, sagte der Abt. Die Kinder Seiferts, des VW- und Audi-Händlers, waren noch zu jung fürs Gymnasium, das wusste Horn. Es musste also um etwas anderes gegangen sein. Es war ihm egal.
Er bat den Abt, ihn nach dem Kreisverkehr aussteigen zu lassen. Die paar hundert Meter Bewegung und frische Luft hatte er nötig.
Der Wasserstand der Ache war niedrig. Auf den Schotterbänken lag eine dünne Schicht Raureif. Am oberen Ende der Betontreppe, die am anderen Ufer zu einem der Altstadthäuser emporführte, stand jemand und schaute in Richtung See. Die gedrungene Gestalt hob sich gegen den hellblauen Himmel deutlich ab. Es war nicht zu erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war.
Etwa auf halbem Weg zum Krankenhaus begegneten ihm Brigitte und Laszlo, die auf I 23 Nachtdienst gehabt hatten. Sie wirkten unbeschwert und zielstrebig, so, als seien sie auf dem Weg zum Frühstück in eines der Seehotels, ins Bauriedl zum Beispiel oder ins Fernkorn. Gabriele Zehmann habe sich kurz nach Mitternacht endlich verabschiedet, erzählten sie; auf der psychiatrischen Seite sei nichts vorgefallen. Lili Brunner sei eigens hereingekommen und
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